Zu Beginn eine Lektion: Wer die Zeitzeugnisse, die Erinnerungen zahlreicher Schoa-Überlebender in der Ausstellung Ende der Zeitzeugenschaft? kennenlernen möchte, muss die Kopfhörer immer wieder aufs Neue in die Anschlüsse stecken. Wer dies versäumt, wird die präsentierten Geschichten in ihrer Tiefe nicht begreifen.
Ein Appell, der – mehr oder weniger verborgen – durchklingt: Wer erinnern will, muss nicht nur zuhören, sondern sich auch aktiv dafür entscheiden. Langfristig.
zusammenarbeit Gestaltet wurde die Ausstellung, die noch bis zum 8. Januar 2023 im Centrum Judaicum zu sehen sein wird, von den Kuratorinnen Alina Gromova, Anika Reichwald und der Direktorin Anja Siegemund in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Hohenems und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg.
Die Schau lädt die Besucher zu vielen kurzen Stationen ein.
Gemeinsam stellen sie die drängende Frage, wie die Gesellschaft, aber auch Museen, Gedenkstätten sowie andere Institutionen zukünftig die Erinnerungen der Schoa-Überlebenden weitertragen sollten. Und: Wie sollte mit all den Zeitzeugnissen, sei es in Form von Literatur oder anderen audiovisuellen Inhalten, heute, aber auch zukünftig umgegangen werden?
Wie der Umgang in der Vergangenheit aussah – auch das ist in der Neuen Synagoge zu erforschen. Gezeigt wird unter anderem ein Ausschnitt des amerikanischen Fernsehformats This Is Your Life aus den frühen 50er-Jahren. In der Sendung werden offenbar ahnungslose Publikumsgäste auf die Bühne gebeten, wo sie ein überraschendes Wiedersehen mit prägenden Menschen ihrer Vergangenheit erleben.
wiedersehen 1953 war die Auschwitz-Überlebende Hanna Bloch Kohner zu Gast. Vielleicht etwas kitschig inszeniert, aber dennoch rührend, traf sie dort einen amerikanischen Soldaten wieder, der sie aus Mauthausen befreite. Den Höhepunkt erreichte die Episode schließlich mit dem Wiedersehen zwischen Kohner und ihrem nach Israel ausgewanderten Bruder, den sie seit der Befreiung nicht mehr gesehen hatte.
Der Ausschnitt zeigt aber auch einen Moderator, der der Auschwitz-Überlebenden immer wieder ins Wort fällt. Hanna Bloch Kohner samt ihrer Geschichte scheint hier vielmehr einer unterhaltsamen Inszenierung zu dienen.
Doch es bleibt nicht das einzige Beispiel für die Rollen und Funktionen, die Zeitzeugen im Laufe der Jahrzehnte einnahmen oder übergestülpt bekamen. Mal waren sie wichtige Quellen der Vergangenheit, unverzichtbare Stimmen in Gerichtsprozessen, an anderer Stelle wiederum das Gesicht einer Geschichte, die viele vergessen wollten. In den Ländern der Siegermächte wurden die Überlebenden gelegentlich auch für politische Zwecke instrumentalisiert. Zahlreiche dieser Erinnerungskulturen können hier nun nachvollzogen werden – samt ihres stetigen, auch von Kultur und Politik abhängigen Wandels von Jahrzehnt zu Jahrzehnt.
auschwitz Dabei zeigt Ende der Zeitzeugenschaft? keine überfordernd langen Inhalte, sondern lädt die Besucher zu vielen kurzen Stationen ein. In einem wenige Sekunden langen Audio-Bericht ist zum Beispiel die Stimme der deutschen Jüdin Anita Lasker-Wallfisch zu hören. Es handelt sich hierbei um einen Rundfunkbeitrag aus dem Jahr 1945, in dem sie von ihrer Gefangenschaft erzählte.
Dann, sehr plötzlich, endet die Aufnahme mit dem Satz: »Nach drei Jahren brachte man uns in das furchtbarste Konzentrationslager: Auschwitz.« Entgegen aller Erwartung wird ihre Zeit in Auschwitz nicht ausgeführt. Der Besucher wird stattdessen mit der eigenen Vorstellungskraft – und darauf sind die nachfolgenden Generationen so oder so angewiesen – konfrontiert. Doch wird das Weglassen von Details, das Kürzen von Inhalten dem unermesslichen Leid der Schoa-Überlebenden überhaupt gerecht? Brauchen wir nicht gerade diese Ausführlichkeit?
Ein Besuch bei Ende der Zeitzeugenschaft? reicht leider, um sich die bedrückende Wahrheit wieder einmal vor Augen zu führen: Es lassen sich nicht alle Geschichten in vollem Umfang wiedergeben. Einmal mehr bewusst wird dies mit dem Blick auf die riesige Erinnerungstafel, die in winzigen Buchstaben die Namen der ermordeten jüdischen Berliner aufführt. Allein ihre Namen reichen schon vom Boden bis zur Decke. Die Ausstellung versucht nicht, der unüberwindbaren Hürde lückenloser Ausführlichkeit gerecht zu werden. Vielmehr legt sie die Erkenntnis offen, dass wir die nachfolgenden Generationen nicht mit den unzähligen Schicksalen auf einmal konfrontieren können.
Generation Vorgeschlagen werden neue Formen des Erzählens, die nicht nur den Schoa-Überlebenden gerecht werden wollen, sondern auch einer Generation, deren Aufmerksamkeitsspanne sich zu verringern scheint.
Auch Claudia Roth (Grüne), Staatsministerin für Kultur und Medien, ging in ihrem Grußwort auf diese neuen Formen des Vermittelns ein. Sie sagte, dass sich »das Erinnern an die Schoa zwangsläufig neue Perspektiven, neue Zugänge« suchen werde. Für uns, die Zeugen der Zeitzeugen, sei es daher nicht nur eine Pflicht, das Gehörte weiterzutragen. Unsere Aufgabe sei es auch, für eine neue Generation von Adressaten innovative Vermittlungsformate zu erarbeiten.
Die Schoa-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch ist in einem Soundfile zu hören.
Diese neuen Erzählformate gehen offenbar auch mit einer neuen Form des Kuratierens einher. So zeigt die Ausstellung nun ganz andere Momente bekannter Überlebenden-Interviews. Und zwar jene, die für die TV-Ausstrahlung einst herausgeschnitten wurden. Zu sehen und hören sind jetzt emotionale Ausbrüche, lange Denkpausen, suchende Blicke sowie einfühlsame wie aufdringliche Interviewer. Es sind die Momente dazwischen, das Unbearbeitete, das Weggelassene, das nun Bände spricht.
Doch auch diese Stationen binden den Besucher kaum länger als drei Minuten an sich. Aus den vielen Erinnerungsfetzen, die im Centrum Judaicum nun zu entdecken sind, ergibt sich am Ende ein dichtes Mosaik der Zeitzeugnisse. Es wirkt aber nicht nur als großes Ganzes. Auch die vielen kleinen Einzelteile, wie beispielsweise der Audio-Bericht von Anita Lasker-Wallfisch, sind unabhängig zu begreifen. Und: Sie wirken lange nach – trotz ihrer Kürze.
Die Ausstellung ist bis zum 8. Januar 2023 zu sehen. Weitere Infos gibt es hier.