Gedenken

Erinnern heißt Verändern

JSUD und Sinti-Roma-Pride klebten nachts Plakate, um die »Harmonie der Vergangenheitsbewältigung« zu stören

von Joshua Schultheis  03.02.2022 08:26 Uhr

An diesem Ort befindet sich heute kein Hinweis mehr auf früheres jüdisches Leben: Das Plakat erinnert. Foto: JSUD

JSUD und Sinti-Roma-Pride klebten nachts Plakate, um die »Harmonie der Vergangenheitsbewältigung« zu stören

von Joshua Schultheis  03.02.2022 08:26 Uhr


»Heute werden viele Politiker:innen Reden halten, Kränze niederlegen und Schweigeminuten abhalten. Heute werden viele ›Nie wieder‹ erklingen«, heißt es im »Manifest des Erinnerns«, geschrieben von der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) und der Initiative »Sinti-Roma-Pride«.

Das alljährliche Erinnern an den Holocaust sei erstarrt und unauthentisch, finden die jungen Aktiven beider Gruppen. Ihr Verdacht: Die Gedenkzeremonien dienten in erster Linie der Selbstvergewisserung der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die Vergangenheit bewältigt und hinter sich gelassen zu haben.

In einer nächtlichen Aktion vom 26. auf den 27. Januar wollten JSUD und Sinti-Roma-Pride diese Harmonie der Vergangenheitsbewältigung stören. In mehreren deutschen Städten zogen sie um die Häuser, um Poster zu plakatieren. Die Botschaft: Das Erinnern an Schoa und Porajmos, den Völkermord an Sinti und Roma, muss mehr sein als eine ritualisierte Pflichtveranstaltung einmal im Jahr.

Hinweise »Aktivistisches Gedenken« nennt Hanna Veiler, Vorstandsmitglied bei der JSUD, dieses Vorgehen. »Anstatt die üblichen Orte wie Friedhöfe oder Synagogen aufzusuchen, haben wir dort plakatiert, wo einmal jüdisches Leben stattgefunden hat, sich heute aber keine Hinweise mehr darauf finden.«

Sie wollen als »Leerstellen« auf die Orte aufmerksam machen, wo früher jüdisches Leben stattfand.

Veiler selbst war mit einigen Mitstreitern in Stuttgart unterwegs, um auf diese »Leerstellen aufmerksam zu machen«, wie es im Manifest heißt. Wo heute in ihrer Stadt die Filiale einer bekannten deutschen Warenhaus-Kette steht, war früher das Kaufhaus Schocken zu finden, das bis zur Enteignung durch die Nazis in jüdischer Hand gewesen war.

Kein Schild erinnert an die Geschichte dieses Ortes. Aber am Morgen des 27. Januar wiesen dort Poster der JSUD mit der Aufschrift »Es begann nicht in Auschwitz« darauf hin, dass der Ermordung der Juden ihre Entrechtung und Ausgrenzung voranging. An anderen Orten der Stadt hieß es außerdem: »Der Hass gegen uns ist nach 1945 nicht verschwunden« und »Erinnern heißt Verändern«.

QR-Code Auf jedem Plakat befindet sich ein QR-Code, der Interessierte zu dem Manifest weiterleitet, in dem die Slogans erklärt werden. Dort findet sich der Verweis auf antisemitische und rassistische Kontinuitäten in Deutschland. Stichwort: Hanau und Halle.

Es wird eine Akzentverschiebung in der Erinnerungskultur gefordert.

Vor allem aber wird eine Akzentverschiebung in der Erinnerungskultur dieses Landes gefordert: Man möchte nicht mehr alten Politikern lauschen, die die immer gleichen Lehren aus den Nazi-Verbrechen ziehen.

»Wir wollen unsere Geschichten selbst erzählen können«, heißt es dort. Denn für die, die in dieser Nacht den erinnerungspolitischen Aufstand übten, ist der Holocaust nicht ferne Vergangenheit, sondern oft lebendiger Teil ihrer Familiengeschichte, sind sie selbst noch von denselben Vorurteilen betroffen wie ihre Vorfahren.

Gratwanderung Neben Stuttgart fand die Aktion noch in 14 weiteren Städten statt, etwa in Frankfurt am Main, München oder Berlin. Dass es eine rechtliche Gratwanderung ist, an öffentlichen Orten zu plakatieren, dessen seien sich die Beteiligten bewusst gewesen, sagt Hanna Veiler. Während in Stuttgart alles ohne Probleme ablief, sei es in anderen Städten aber zum Kontakt mit den Autoritäten gekommen.

»Mit rechtlichen Konsequenzen rechnen wir aber nicht«, gibt sich Veiler optimistisch. Man habe stets darauf geachtet, nur Haftmaterial zu benutzen, das sich schnell wieder entfernen ließe. Ganz ohne Provokation wäre jedoch eine solche Aktion vielleicht auch nicht ausgekommen.

Dass es ihnen ernst ist mit ihrer Form des Gedenkens an den Holocaust, machen die Aktivisten von der JSUD und von Sinti-Roma-Pride auch mit ihrem Manifest deutlich, das mit diesem Aufruf endet: »Siehst du uns? Hörst du uns zu? Kämpfst du mit?«

Staatsanwaltschaft Stuttgart

Anklage wegen Anschlagsplänen auf Synagoge in Heidelberg

Zwei junge Männer tauschen sich in Chats über mögliche Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Heidelberg und Frankfurt am Main aus

 29.10.2024

Zeitz

Reinhard Schramm warnt vor Zweckentfremdung von Spendengeldern

Der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen wirbt im Spendenstreit für Simon-Rau-Zentrum

 28.10.2024

Stuttgart

Lebensbejahende Botschaft

Die Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs feierte das Neujahrsfest

von Brigitte Jähnigen  27.10.2024

München

Wunden, die nicht heilen

Tausende zeigten auf dem Odeonsplatz Solidarität mit Israel. Die IKG lud am Jahrestag des Hamas-Massakers zu einem Gedenkakt in die Synagoge

von Luis Gruhler  27.10.2024

Oper

Kammeroper »Kabbalat Shabbat« in Berlin

Die Zuschauer werden zu einem Schabbatmahl eingeladen. Die Oper ist die erste, die auf Hebräisch in Deutschland interpretiert wird

von Christine Schmitt  23.10.2024

Kunstatelier Omanut

Beschallung mit wunderbaren Stimmen

Judith Tarazi über das erste Inklusions-Konzert, Vandalismus und offene Türen

von Christine Schmitt  22.10.2024

Jüdische Gemeinde Frankfurt

Erstmals eine Doppelspitze

Die neuen Gemeindechefs Benjamin Graumann und Marc Grünbaum wollen Vorreiter sein

von Christine Schmitt  22.10.2024

Potsdam

Gründer des Abraham Geiger Kollegs verstorben

Rabbiner Walter Jacob starb mit 94 Jahren in Pittsburgh

 21.10.2024

Mitzvah Day

Zeit zu verschenken

Jeder ist eingeladen, sich am Tag der guten Taten einzubringen. Anmeldeschluss ist der 1. November

von Christine Schmitt  21.10.2024