Am Mittwochabend gedachte die Jüdische Gemeinde zu Berlin im Gemeindehaus Fasanenstraße der sechs Millionen Juden, die in der Schoa ermordet wurden. Mit der jährlichen Gedenkstunde erinnerte sie zudem an den 73. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto im Frühjahr 1943.
In diesem Jahr waren es vor allem zwei Worte, die sich durch alle Reden des Abends zogen: Nie wieder! So fragte etwa der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Gideon Joffe, in seiner Rede, ob das Gedenken ausreiche, um das »›Nie wieder‹ für die Ewigkeit zu sichern«. Denn angesichts der »diskriminierenden Haltung der Weltgemeinschaft zu Israel« und zunehmenden Antisemitismus in Europa könnten sich Juden weltweit nicht darauf verlassen, dass »die richtigen Lehren aus dem ›Nie wieder‹ gezogen« worden seien.
dankbarkeit Zudem verwies Joffe auf den Unterschied zwischen Erinnern und Gedenken – als Nachgeborener empfinde er Dankbarkeit zu gedenken; Erinnerung jedoch bedeute, sich in das Erlebte hineinzuversetzen. Dies sei unmöglich, so der Gemeindevorsitzende.
»Was unsere Vorfahren vor 70 Jahren erlebt haben, übersteigt jegliche Vorstellungskraft – wir verneigen uns heute in Ehrfurcht vor den Millionen Männern, Frauen und Kindern, die der Nazi-Maschinerie zum Opfer gefallen sind.« Er betonte zugleich, wie glücklich sich Juden in Deutschland schätzen könnten, in einem Land zu leben, das sich so der Geschichte stellt, wie es die Bundesrepublik tue. »Wir glauben an die Zukunft, aber wir können nicht sicher sein.«
Ralf Wieland (SPD), Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, griff Joffes Appell auf. Er betonte, dass »unsere Demokratie vor einer neuerlichen Herausforderung« stehe – in Anbetracht »rassistischer Entgleisungen«, die Erinnerungen an das »dunkelste Kapitel deutscher Geschichte« wecken würden.
parolen An manchen Orten in Deutschland gehe der Mob wieder auf die Straße und finde sogar politische Unterstützung für menschenverachtende Parolen. Diejenigen, die sich heute verharmlosend »Wutbürger« nennen, seien »in Wahrheit gefährliche Antidemokraten und Feinde der Demokratie«.
Der Rechtsstaat müsse sich dieser Herausforderung mit Nachdruck stellen, so Wieland. Denn er sei nicht wehrlos – wehrlos seien immer nur die Opfer. Er würdigte in diesem Zusammenhang »den Mut und die Tapferkeit« der Kämpfer im Warschauer Ghetto, die »nicht ohne Gegenwehr in den Tod gehen wollten«, und erinnerte »mit Schaudern an den grausamen Völkermord an den europäischen Juden«.
Die Verbrechen der Nationalsozialisten seien ohnegleichen, sagte Wieland. Sie stünden für »das Unvorstellbare, für Demütigung, Hunger und Todesangst«. »Das mahnt uns Deutsche, derartiges Unrecht nie wieder zuzulassen – nie wieder.«
gedicht Es habe lange gedauert, erinnerte Gemeinderabbiner Jonah Sievers in seiner anschließenden Rede, bis Deutschland sich seiner Verantwortung gestellt und die Lehre des »Nie wieder« daraus gezogen habe. Die Notwendigkeit, sich zu erinnern, werde mitunter schon durch einfache Worte bewirkt, Worte etwa, wie sie der russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko in seinem Gedicht »Babi Jar« gefunden habe.
Jewtuschenkos Verse hatten 1961 in der damaligen Sowjetunion einen Skandal ausgelöst. Der Dichter brach ein Schweigen über den Massenmord, den die Deutschen in der Schlucht von Babi Jar am 29. und 30. September 1941 an mehr als 33.000 Juden verübt hatten. Das Gedicht wurde in Auszügen vorgetragen – auf Deutsch vom Gemeinderabbiner, auf Russisch von einer Schoa-Überlebenden. Es beginnt mit den Worten: »Über Babi Jar steht kein Denkmal.«
Zu den Ehrengästen gehörten vor allem Überlebende der Schoa. Neben Vertretern aller politischen Parteien des Berliner Abgeordnetenhauses und des Deutschen Bundestages nahmen Vertreter des Diplomatischen Corps Berlin, der Kirchen und der Berliner Polizei an der Gedenkveranstaltung teil.
Insgesamt waren etwa 150 Menschen gekommen. Im Anschluss legten die Repräsentanten von Gemeinde, Zentralrat, Politik und Diplomatie vor dem Gemeindehaus Kränze nieder. Die Toten- und Gedenkgebete Kaddisch und El Male Rachamim hielten Rabbiner Jonah Sievers und Kantor Isaac Sheffer.
namenslesung Bereits seit 9 Uhr morgens lasen Schüler des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelsohn und Mitglieder des Jüdischen Jugendzentrums, Gemeindemitglieder und nichtjüdische Berliner vor dem Jüdischen Gemeindehaus unter dem Motto »Jeder Mensch hat einen Namen« die Namen der 55.696 ermordeten Berliner Juden aus dem Gedenkbuch des Landes Berlin. Die Namenslesung wird seit 1996 jährlich veranstaltet.
Jom Haschoa ist seit 1951 der offizielle Holocaust-Gedenktag in Israel. Er variiert jedes Jahr wegen des jüdischen Kalenders, liegt aber immer um den 19. April herum, den Beginn des bewaffneten Aufstandes im Warschauer Ghetto 1943. Damals wehrten sich etwa 1100 Juden im Ghetto vier Wochen lang gegen die Deportation in die Vernichtungslager. Der Aufstand wurde schließlich von den Nazis brutal niedergeschlagen.