Frankfurt

Erfahrungen und Perspektiven

Nach der langen Zeit der Pandemie: Gespräch zwischen Zentralratspräsident Josef Schuster und Museumsdirektorin Mirjam Wenzel über Judentum, Gesellschaft und Kultur Foto: TR

Eine allgemeine Standortbestimmung mit Zukunftsperspektiven: Dazu hatte Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, am Montagabend Zentralratspräsident Josef Schuster in ihr Haus eingeladen. Dabei zog Schuster – nach zwei Jahren Pandemie vor Ort und in Präsenz – ein Resümee seiner bisherigen Amtszeit und der politischen und innerjüdischen Entwicklungen in den beinahe acht zurückliegenden Jahren.

Nur wenige Wochen nach seiner Wahl im November 2014 war Schuster zum Amtsantrittsbesuch bei Bundeskanzlerin Angela Merkel. Es war der 9. Januar 2015, ein Freitag, »daran erinnere ich mich heute noch genau«, sagt er. Denn als Schuster aus dem Treffen kam, hörte er von der Geiselnahme und den Morden an der Porte de Vincennes in Paris. Ein islamistisch motivierter Terrorist hatte in einem koscheren Supermarkt vier Juden ermordet und mehrere Geiseln genommen.

antisemitismus Im Laufe der Jahre nahm der Antisemitismus fühlbar zu, erinnert Schuster, und als es um die große Zahl an Geflüchteten ging, die ab Herbst 2015 nach Deutschland kamen, habe er große Sorge gehabt, »dass in diesem Fluchtzustrom auch Menschen mit niederträchtigen Einstellungen und Vorhaben eine offene Tür in Deutschland finden würden«.

Dennoch, so habe er bemerkt, habe der islamische Antisemitismus aufgrund der zahlreichen geflüchteten Menschen mit muslimischem Hintergrund nicht signifikant zugenommen. Bei den Protesten gegen Israel und antisemitischen Anfeindungen zwischen den Jahren 2014 und 2021 sehe er zahlenmäßig keinen großen Unterschied, so Schuster.

Kritisch beäugen solle man jedoch die Entwicklungen der vergangenen zwei Jahre bei den sogenannten Querdenker-Demonstrationen. »Hat die Abnahme des Vertrauens in die Demokratie in Deutschland etwas damit zu tun?«, fragt Mirjam Wenzel – und dass Antisemitismus nicht mehr nur in Gedanken oder privaten Gesprächen zu verorten sei, sondern in der breiten Öffentlichkeit einen lauten Platz gefunden hat?

Dies zum einen durch die von rechten Bewegungen unterwanderten »Querdenker«-Demonstrationen, zum anderen aber auch durch eine Partei wie die AfD, die im Bundestag die Schoa marginalisiert und leugnet und Erinnerungskultur ablehnt, greift Schuster den Gedanken auf. Das schinde Eindruck bei Menschen, die derlei Gedanken willkommen heißen. Eine wichtige Frage sei also die nach der Strategie, mit der man einer derartigen Entwicklung entgegenwirken könne, so Wenzel.

Bildung Für Schuster ein wichtiges Stichwort: Bildung – jedoch nicht nur für Erwachsene, sondern besonders für junge Menschen. »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr«, sagt er halb im Scherz und doch sehr ernst. Es gelte also, bei den ganz Jungen anzufangen, um zu sensibilisieren und »immun« gegen antisemitisches, aber auch rassistisches Gedankengut zu machen.

Niemand werde als Antisemit geboren, jedoch an irgendeinem Punkt ist offensichtlich solches Gedankengut auf fruchtbaren Boden gestoßen. Schuster fordert, dies durch gezielte Bildungsprogramme zu verhindern. In diesem Kontext erwähnt er die Begegnungsformate des Zentralrats, »Meet a Jew« und »Schalom Aleikum«.

Mirjam Wenzel fragt nach der Zusammenarbeit jüdischer Museen und Gemeinden.

In eigener Sache bringt Mirjam Wenzel auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Jüdischen Museen und Jüdischen Gemeinden ins Spiel. Die Zusammenarbeit sei von Ort zu Ort sehr unterschiedlich, räumt sie ein, das zeige auch das Beispiel Würzburg – Schusters Heimatstadt – besonders gut. Denn dort ist nicht die Stadt oder der Staat Träger des Jüdischen Museums, sondern die Gemeinde selbst.

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gemeinde und Museum sei vor allem für das Verständnis eines Jüdischen Museums wichtig, sind sich die Gesprächspartner einig: »Ein Museum hat die Aufgabe, ein breites, nichtjüdisches Publikum anzusprechen, zu vermitteln und weiterzubilden.« Gleichzeitig sollten sich Gemeindemitglieder aufgehoben und vertreten sehen.

provenienz Ein wichtiger Punkt dabei sei auch die Frage nach der Herkunft der Objekte, oft Ritualgegenstände: Wem gehören sie? Heutige Museen und Gemeinden treten vor allem als Verwahrer der Objekte und Vermittler ihrer Geschichte auf. Auch wenn es natürlich einen Bruch gab, ist dies wichtig, um Kontinuitäten sichtbar zu machen und zu schaffen, erklärt Wenzel.

Ein weiterer Punkt im Themenfeld Kultur ist die bevorstehende »documenta 15« und deren drohende Vereinnahmung durch Künstler, die der israelfeindlichen BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions) nahestehen. Lässt sich das Kunstwerk vom Künstler trennen? Diese Frage müsse stets und besonders im Zusammenhang mit der bevorstehenden Weltschau zeitgenössischer Kunst gestellt werden.

Ihm gehe es darum, dass keine Werke ausgestellt werden, die die Bestrebungen von BDS unterstützen und repräsentieren und somit einen israelfeindlichen Antisemitismus fördern, betont Josef Schuster. Schließlich sei BDS in Deutschland vom Bundestag ausdrücklich als antisemitisch erklärt worden. Dementsprechend sei eine solche Organisation im Umfeld der documenta nicht zu dulden.
Frankfurt ist als Standort einer Jüdischen Akademie geschichtsträchtig, sagt Josef Schuster.

Frankfurt ist als Standort einer Jüdischen Akademie geschichtsträchtig, sagt Josef Schuster.

Selbstverständlich könnten Künstler an sich israelkritisch sein, so Schuster. Die Trennung zwischen Kunst und Künstler ist in einem Museum natürlich auch eine immer wiederkehrende Frage, sodass sie in Bezug auf BDS und internationale Ausstellungsprojekte laut Wenzel auch einen neuen Ansatz darstellen könne. Hier gelte es, Lösungen für den Umgang zu finden.

Akademie Ein Blick in die Zukunft ist die Gründung einer Jüdischen Akademie in Frankfurt. »Welche Hoffnungen liegen in so einem Projekt?«, fragt Wenzel. »Diese Hoffnung ist nicht unbedingt an Frankfurt gebunden«, betont Schuster, jedoch sei der Standort praktisch, gut angebunden und vor allem von viel jüdischem Leben umgeben. Zudem sei Frankfurt als Standort einer Jüdischen Akademie geschichtsträchtig.

Der Geschichte des Historikers und Philosophen Franz Rosenzweig sowie der Idee des Jüdischen Lehrhauses folgend, erhoffe er sich von diesem »Leuchtturmprojekt«, das Angebot der innerjüdischen Fortbildung ausbauen und verstetigen zu können. Gleichzeitig könne man mit religiösen, aber auch jüdisch-politischen Themen an eine Öffentlichkeit treten.

Die Akademie soll ein Ort für alle werden, nicht nur für Frankfurter, wünscht sich Josef Schuster: ein Anziehungsort für jüdische Bildung und Weiterbildung und somit ein Ort der Tradition.

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