Ich werde Arzt. Das steht für mich seit meinem 14. oder 15. Geburtstag fest. Meine Mutter ist Ärztin. Das könnte eine Rolle gespielt haben. Doch der einzige Grund war es sicher nicht. Während meiner Madrich-Zeit im Jugendzentrum in Stuttgart habe ich gemerkt, dass es mir richtig gut gefällt, Kinder um mich zu haben. Ich konnte mit ihnen umgehen und mir vorstellen, irgendwann einmal als Kinderarzt zu arbeiten. Im Laufe des Medizinstudiums hat sich das dann noch ein paarmal geändert. Ich habe dabei Gebiete kennengelernt, von denen ich zuvor noch nie gehört hatte.
Und klar, irgendwann kommt diese erste berühmte Begegnung mit einer Leiche. Das beherrschende Gefühl für mich war damals Ehrfurcht – vor dem menschlichen Körper und vor dem toten Menschen. Beim Schneiden wird man dann schnell sachlich, erkennt wieder, was man bisher nur aus Büchern wusste. Im Moment sehe ich mich als Arzt in der Inneren Medizin, ich will mich auf Endokrinologie spezialisieren, die Wissenschaft von den Hormonen. Da geht es dann zum Beispiel um Schilddrüsenerkrankungen oder Diabetes. Das interessiert mich.
Langsam heißt es, meine Zukunftsvorstellungen ernst zu nehmen: Mein Studium ist vorbei. Was dann kommt? Erst einmal habe ich gefeiert, nun will ich mich für ein paar Monate nach Südamerika aufmachen: nach Bolivien, Peru, Ecuador, Kolumbien. Ich werde wandern, die Natur genießen, mein Spanisch auffrischen, die Zukunft auf mich zukommen lassen und zurückdenken.
Ich erinnere mich ja noch genau, wie ich den ersehnten Studienplatzbescheid in meinen Händen hielt. Ich war froh, und dann entdeckte ich: Studienort München. Das war auf meiner Prioritätenliste auf Platz drei! So richtig hat es mich also nicht in die bayerische Hauptstadt gezogen, auch weil jeder wusste, wie es dort auf dem Wohnungsmarkt zugeht.
Olympiadorf Ich nahm mir also die Liste von allen Münchner Wohnheimen vor und begann, sie abzutelefonieren. Absage nach Absage. Bis das »Olympiazentrum« dran war. »Ja«, haben sie mir gesagt, »Wir haben gerade so ein Einzelappartement im Hochhaus frei, aber Sie müssen sofort zusagen.« Ohne etwas von den Räumlichkeiten gesehen zu haben, besprach ich mich kurz mit meinen Eltern und sagte dann zu. Ich war untergekommen! Kurz darauf musste das Hochhaus nämlich kernsaniert werden. Alle mussten raus, hatten aber wegen der Umstände das Vorrecht, in einen dieser beliebten Bungalows umzuziehen – Betonwürfel mit zwei Stockwerken, 20 Quadratmeter groß, Miniküche und eigenem Bad inklusive. Im Olympischen Dorf leben so etwa 2000 Studenten, es gibt dort eine eigene Bibliothek, eine eigene Bar, viele Feste. Eine wunderbare Zeit – immerhin viereinhalb Jahre habe ich dort verbracht. Ich habe viele Leute kennengelernt und hatte längst nichts mehr gegen München.
Dann musste ich mich nach etwas Neuem umsehen, und weil ich eigentlich schon ein WG-Typ bin, einer, der gut mit Menschen kann, habe ich erst einmal in dieser Richtung gesucht, bis mir diese WG-Castings, auf denen man sich präsentieren muss, und bei denen sich die Chancen extrem erhöhen, wenn man entweder ein Superkoch ist, eine Playstation oder einen Flachbildschirm besitzt, so auf die Nerven gegangen sind, dass ich damit aufgehört und etwas ganz Altmodisches ausprobiert habe: Ich habe in der Süddeutschen Zeitung ein Wohnungsgesuch aufgegeben: drei Zeilen unter der Rubrik »Wohnungsbörse«.
Und tatsächlich hat sich ein freundlicher alter Herr bei mir gemeldet. Er hat mich angerufen und gesagt: »Grüß Gott, ich bin der Vermieter.« Am nächsten Tag war die Wohnungsbesichtigung mit mir als einzigem Interessenten! Ich habe die Wohnung bekommen und verstehe mich bis heute wunderbar mit dem älteren Herrn. Wenn wir uns etwas zu sagen haben, dann passiert das per Brief oder übers Festnetz. Ganz »old fashioned«. Dass ich mich in München gleich zu Hause gefühlt habe, hat auch mit dem Jugendzentrum zu tun, mit dem ich sehr schnell Kontakt aufgenommen und wo ich junge jüdische Leute mit den unterschiedlichsten Lebensgeschichten kennengelernt habe.
integration Ich selbst wurde 1990 in Tallinn in Estland geboren. Als ich zwei Jahre alt war, sind wir – meine Eltern, mein Bruder und meine Großeltern väterlicherseits – nach Deutschland ausgereist, und zwar nach Schwäbisch Hall in Baden-Württemberg. Meine Großeltern mütterlicherseits aus der Ukraine sind dann etwas später auch noch nachgekommen.
Heute lebt meine Familie in Waiblingen in der Nähe von Stuttgart, wo meine Mutter ihre eigene Praxis eröffnen konnte. Mein Vater arbeitet als Informatiker. Beiden war es von Anfang an wichtig, in Deutschland in ihren Berufen zu bleiben. Sie waren schon immer bewusste Juden, und wir Kinder sind jüdisch aufgewachsen, wenn auch nicht unbedingt im religiösen, sondern eher im kulturellen, traditionellen Sinne.
In Stuttgart wurden wir gleich Gemeindemitglieder – mein Vater ist dort bis heute in der Repräsentanz –, mein Bruder und ich haben oft das Jugendzentrum besucht, haben jüdischen Religionsunterricht erhalten von einer Lehrerin, die extra zu uns nach Schwäbisch Hall angereist ist. Das sind von Stuttgart aus immerhin 70 Kilometer. Wir haben die Brit Mila nachgeholt, und ich wurde Barmizwa.
identität Im Gymnasium wurde ich mir meiner jüdischen Identität immer bewusster, was zur Folge hatte, dass auch meine Mitschüler mehr über mein Judentum wissen wollten. Sie waren interessiert. Kamen Fragen, dann habe ich geantwortet. In München habe ich für meine Kommilitonen auch schon zweimal eine Synagogenführung gemacht. Ich finde so etwas wichtig, auch weil da Bilder im Kopf existieren über das Judentum oder über uns Juden, die man zurechtrücken sollte. Wir tragen halt nicht alle einen Hut, einen Bart und Pejes vor den Ohren. Ich möchte zeigen, dass wir ganz normale Menschen sind, dass es bei uns Kluge und Doofe gibt, Gute und Schlechte, dass wir weder etwas Besonderes sind, noch etwas Anderes.
Nach dem Abi bin ich mit Schulfreunden nach Israel gereist. Auch das war wichtig. Reisen gehört zu mir, Erfahrungen sammeln in anderen Ländern. Im Rahmen meines praktischen Jahres habe ich zwei Monate an der Moskauer Uniklinik verbracht. Ich habe ja auch in Moskau Familie, unter anderem einen Cousin fünften Grades, mit dem ich eine richtig coole Zeit hatte.
Vor dem Praktikum im Krankenhaus war ich mit dem Rucksack in Polen unterwegs gewesen, hatte mir Auschwitz angesehen und bin in die Ukraine gefahren. Dort wollte ich mir, weil ich es einfach spannend finde, auf Spurensuche zu gehen, das Dorf meiner Mutter ansehen. Das hat aber leider nicht geklappt, weil da überhaupt nichts mehr hinfährt. Das ist total abgelegen an der Grenze zu Moldawien.
In Israel war ich insgesamt fünfmal, das letzte Mal vor einem Jahr zur Hochzeit einer Freundin. Aber ich war auch schon auf Taglit dort gewesen, hatte zweimal Praktika in Krankenhäusern gemacht. Istanbul kenne ich übrigens auch recht gut, ebenfalls durch ein Praktikum im dortigen Krankenhaus.
Mitzwe Makers Bin ich in verschiedenen Städten, nehme ich gerne Kontakt mit der örtlichen jüdischen Gemeinde und den jungen Leuten dort auf. Man kennt sich ja irgendwie. Als ich nach München gekommen bin, war das nicht anders.
Ich war schnell in der Gemeinschaft integriert, wurde schnell Madrich, später Ko-Rosch, Madrichim-Leiter, dann für zwei Jahre Vorsitzender des Jüdischen Studentenverbandes. Wir Studenten feiern monatlich zusammen Schabbat, treffen uns zu einem Stammtisch, machen Party zu den verschiedenen Feiertagen. Wir möchten der Öffentlichkeit zeigen, dass es uns gibt: Wir leben hier, wir feiern hier unsere Feste, wir gehören dazu. Dass ist auch der Grund, weshalb wir uns in ganz normalen Klubs treffen und warum unsere Partys für alle offen sind. Bei den Mitzwe Makers habe ich zwar kein Amt, aber wenn helfende Hände gebraucht werden, bin ich dabei.
Sport mache ich auch gerne. Ich jogge und schwimme, um mich fit zu halten. Um Spaß zu haben, spiele ich mit meinen Freunden Fußball oder Volleyball. Auf meinen Reisen mache ich unglaublich viele Fotos. Auch von der nächsten Reise nach Südamerika werde ich wieder neue Fotos und Erfahrungen mitbringen. Ich bin sicher, sie werden mir beim Start ins Berufsleben zugutekommen.