Er betrachtete sich als »den kleinen Tuvje«, den man nicht gut sehen, dafür gut hören kann. Zum ersten Mal traf ich Rabbiner Tovia Ben-Chorin vor mehr als 20 Jahren während meiner privaten Studien in Jerusalem, als er mich ermutigte, nach Berlin zu ziehen. Damals wusste er noch nicht, dass Berlin seine letzte Großgemeinde werden würde, die er sieben Jahre lang prägte, mit vielen Kontakten bis zu seinen letzten Tagen.
Mit seiner Frau Adina war er in einer der Kommissionen, die mich zum Studium am Abraham Geiger Kolleg aufgenommen hat. Weil sie damals in Zürich gelebt hatten, habe ich beide als Rabbinerstudent immer wieder besuchen und prägende Schabbatot, einmal auch Jamim Noraim, erleben dürfen.
Spaziergang Rabbiner Ben-Chorin suchte aktiv den Kontakt mit anderen, scheute auch kein Gespräch mit Fremden. Wenn ich mit ihm spazieren ging, verwickelte er sich spontan in ein charmantes Schmoozing mit einem Polizisten, Jugendlichen oder Straßenkehrer, dem er begegnete. Er hatte für alle ein nettes Wort parat, einen kleinen Witz oder eine kurze Weisheit.
Er war wie ein Zauberer, der zu jeder Zeit aus seinem Zauberhut eine schöne Blume herausziehen und überreichen kann. Er selbst sprach vom »horizontalen Glauben«, vom Göttlichen als Du und erläuterte dies am Beispiel der Gebetsriemen: »Wenn ich Tefillin anlege, sehe ich selbst die Tefillin nicht, sondern der andere, der dadurch in gewissem Dialog mit mir steht.«
Wegen seines geradlinigen Glaubens war Rabbiner Ben-Chorin an jeder seiner Wirkungsstätten ein effektiver Seelsorger für alle, die seine Hilfe brauchten. Er beeinflusste viele Generationen von Rabbinerinnen und Rabbinern. Sie suchten ihn auf, weil er sie motivierte.
Chor Einmal sollte er vor einer Choraufführung eine Ansprache vor dem Publikum halten. Bevor er ans Mikrofon trat, ging er zuerst unerwartet auf den Chor zu und bedankte sich bei den Sängerinnen und Sängern. Steinerne Gesichter der Chormitglieder wandelten sich in strahlende. Auch wenn er nie einen Bart trug, passte er gut in eine der chassidischen Geschichten von Martin Buber, dessen dialogisches Prinzip er lebte. Mehr als eine Sitzung genoss er Gespräche, Begegnungen, Vorträge. Wirklich jedes Mal, wenn ich ihn besuchte, war sein Kalender voll.
Auch noch im letzten Herbst. Er war ein sehr gefragter Redner, oft in den Kirchengemeinden, aber auch als Interviewpartner und Podiumsteilnehmer in den Medien. Auf die Zuhörer wirkte er wie ein Magnet, weil er häufig Witze und Geschichten erzählte. Als er einmal in unserer Gemeinde Beth Shalom in München beim Kiddusch witzelte, schaute er seine Frau an und sagte: »Jetzt muss ich aufhören.« Er wusste, dass er ein glücklicher Rabbiner nur dank seiner Adina war. Wenn sie nicht am Schabbat in der Synagoge waren, machten sie den Kabbalat Schabbat füreinander.
Die liturgischen Seminare von Rabbiner Ben-Chorin in Zürich waren bekannt und gesucht, auch von deutschen Gemeindemitgliedern. Im Schacharit des Wochentages, nach der Einladung zu den Mizwot, wie Bikur Cholim, Krankenbesuch, oder Hachnasat Orchim, Gastfreundschaft, kommt Ijun Tefilla. Dabei denken wir an die Pflicht zum Gebet. Rabbiner Ben-Chorin wies jedoch darauf hin, dass der Text vom Ijun Tefilla spricht, vom Studium, vom Betrachten der Worte des Gebetes, wobei diese Einstellung sogar jüdische Atheisten nicht ausschließt, mit denen er das Gespräch suchte, weil er »out of the box« denken wollte. Er liebte es, die Tefillot zu vermitteln.
Ich erinnere mich an ein Seminar über Hallel. Er hat es natürlich nicht geschafft, systematisch die lobenden Psalmen durchzunehmen. Dennoch haben alle das Seminar mit einem starken Eindruck und Lächeln verlassen. Seine Struktur war assoziativ, wie die Perlen der Gedanken, abwechselnd mit den Perlen der Unterhaltung. Das Ergebnis war eine ansprechende Halskette, die man betrachten konnte.
Formel Dennoch hatte er eine strukturelle Vorliebe, in der guten aristotelischen Tradition die der Triade, wenn er von der Formel »Schöpfer – Schöpfung – Geschöpf« sprach. Oder die Essenz des Judentums: zum einen die Terminologie – das heißt, die besonderen Worte und Ausdrücke, die wir benutzen und die uns prägen. Zum anderen der Kalender – das heißt, das Gespür für den Ablauf der Zeit und die besonderen Zeiten im Lauf des jüdischen Jahres.
Und schließlich die soziale Ethik und die Aufmerksamkeit fremden Menschen gegenüber. In seinen alltäglichen Gesprächen hatte er immer einen Vers aus dem Talmud oder der Tora parat. Besonders gerne bezog er sich, im Geiste des progressiven Judentums, auf die Propheten: bakschu Zedek, bakschu Anawa, sucht die Gerechtigkeit, sucht die Bescheidenheit (Zefanja 2,3).
Sein Charisma lag auch darin, dass er große Menschenversammlungen bewegen konnte. Nicht nur mit seinem Wort, sondern auch mit seinem Gesang. In Spandau bei den UpJ-Tagungen am Erew Schabbat, in Bielefeld 2015 bei der ersten Tagung »End-of-life: Jewish perspectives«. Bei der Feier seines 80. Geburtstags im Münchener Stadtarchiv brachte er die Anwesenden mit seiner Stimme und Körpersprache zum Singen des Liedes über den Ruach, den Geist. Trotz aller Enttäuschungen, die er einstecken musste, blieb Rabbiner Ben-Chorin nicht nur ein Geistlicher, sondern ein geistlicher Mensch.
In den letzten Jahren fand er einen großen Gefallen an Spinoza, machte sich auch Gedanken über jüdische Mystik. Dennoch lebte er in der Gegenwart, hörte jeden Tag stundenlang die hebräischen Nachrichten online. Noch in seinen letzten Tagen im Krankenhaus, als er von seinem Schlummern aufwachte, fragte er nach dem Krieg in der Ukraine und nach seiner Familie.
Sokrates Ich versuchte manchmal, ihn zu ermutigen, seine humanistische Theologie aufzuschreiben. Das wollte er aber nicht. Um sich dadurch von seinem Vater abzusetzen? Weder Sokrates noch Epiktet haben etwas geschrieben, doch wir kennen ihre Philosophie. Von Rabbiner Ben-Chorin bleiben uns viele Aufnahmen seiner Fernsehauftritte, in denen wir im Nachhinein sein Gedankensystem verfolgen können. Eine Ausnahme bilden seine Beiträge im Rundbrief der Gemeinde Or Chadasch in Zürich, die im WDL-Verlag, Hamburg im Jahr 2017 unter dem Titel Orech Haschulchan – Der den Tisch deckt herausgegeben wurden.
Wenn ich ihm eine Frage stellte, griff er nach Mischna Berura, einem Kommentar des klassischen jüdischen Gesetzes. Dann griff er auch nach einem anderen Buch und noch nach einem anderen Buch, sodass ich oft am Ende meine Frage vergaß und verstand, warum er manchmal überspitzt sagte, dass ein Rabbiner für seine Rede keine Uhr, sondern einen Kalender brauche.
Biografie Rabbiner Tovia Ben-Chorin wurde am 15. September 1936 in Jerusalem geboren und erzogen und studierte an der Hebräischen Universität. Im Sechstagekrieg kämpfte er in der 52. Einheit. Einige Male habe ich ihn in der Öffentlichkeit kryptisch behaupten gehört, seine Hände seien nicht sauber, weil er im aktiven Kriegsdienst gewesen sei. Er wurde am Hebrew Union College in Cincinnati im Jahre 1964 zum Rabbiner ordiniert, wirkte in Ramat Gan, in der Gemeinde Har-El in Jerusalem, in Manchester, in Or Chadasch in Zürich, in der Berliner Synagoge in der Pestalozzistraße. Als letzte Station begleitete er den egalitären Minjan in Konstanz und nahm die Position in St. Gallen an, wo er in der Nacht am 22. März, ein halbes Jahr nach seinem 85. Geburtstag, diese Welt verließ.
Er sollte bald wieder nach München kommen, in die Geburtsstadt seines Vaters Schalom. Im Jüdischen Museum sollte er einen wegen der Pandemie mehrmals verschobenen Vortrag halten über die Bilder seiner Mutter, der Künstlerin Gabriella Rosenthal, der der Katalog Es war einmal in Jerusalem gewidmet wird. Dazu schrieb er mir im Mai 2019: »Für mich ist es eine große Genugtuung, das Gebot zu erfüllen, ehre (deinen Vater und) deine Mutter und dieses intime Gefühl mit dir zu teilen.«
Er wird von vielen vermisst. Nicht nur von seiner Frau Adina, den Söhnen Golan und Noam, den Schwiegertöchtern Jennifer und Bat Sheva, Schwester Ariella, den Enkelkindern Ilai, Roi, Shaked, Shirah und Tamar. Jehi Sichro baruch.