Gedenken

»Er war ein Glücksfall«

Vor 25 Jahren starb Ignatz Bubis. Weggefährten erinnern an den einstigen Zentralratspräsidenten

 13.08.2024 11:21 Uhr

Würdig und entschlossen vertrat er die jüdischen Gemeinden: Ignatz Bubis (1927–1999), der ehemalige Präsident des Zentralrats der Juden Foto: picture-alliance / dpa

Vor 25 Jahren starb Ignatz Bubis. Weggefährten erinnern an den einstigen Zentralratspräsidenten

 13.08.2024 11:21 Uhr

Am 13. August 1999 starb der Schoa-Überlebende, Kaufmann und Politiker Ignatz Bubis im Alter von 72 Jahren. 1992 wurde er zum Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland gewählt. Preisträger und Weggefährten erinnern sich an ihn.

Cem Özdemir, Bundesminister für Landwirtschaft
Ignatz Bubis, seligen Angedenkens, umschrieb sein Lebenswerk mit den Worten, er habe versucht, Vergangenheit und Zukunft zu verbinden. Es gelang ihm wie keinem Zweiten.

Als ich 2019 voller Demut und Dankbarkeit den Ignatz-Bubis-Preis entgegennehmen durfte, erinnerte ich mich an seine Worte nach dem furchtbaren Mord an den fünf Kindern und Enkeln von Mevlüde Genc 1993 in Solingen. Ausgerechnet er, dessen Familie in der Schoa auseinandergerissen und zerstört worden war, dessen Vater und Geschwister ermordet wurden, schaffte es, dieses Land zu einen, und wurde nebenbei noch quasi zum Sprecher der türkischen Community in Deutschland. Türken, Kurden, Aleviten, Sunniten, Kemalisten, Religiöse – auf keinen unter den Eigenen hätten sie sich einigen können. Doch die Worte von Ignatz Bubis sprachen ihnen aus dem Herzen.

Solingen und Ignatz Bubis haben meinen Weg in die Bundespolitik bestimmt, und ich empfand und empfinde es bis heute als Verpflichtung, aus Dankbarkeit und Überzeugung, wo immer Antisemitismus sein hässliches Gesicht zeigt, laut und deutlich meine Stimme zu erheben. Das gilt nicht erst, aber ganz besonders seit dem 7. Oktober 2023. Dass nach dem Terror der Hamas in Israel Jüdinnen und Juden bei uns und weltweit noch stärker angefeindet werden, als dies ohnehin schon viel zu oft der Fall war, ist besonders perfide. Jüdische Deutsche müssen sich darauf verlassen können, in ihrem Land sicher zu sein. Dass sie es oft nicht sind, ist ein großes Versagen. Jemanden wie Ignatz Bubis könnten wir in diesen Zeiten brauchen. Er fehlt.

Alfred Jacoby, Architekt
Vor einigen Wochen schickte mir mein Kollege Luca Molinari aus Neapel ein Buch mit der Widmung The House That We Are. Es beschreibt, wie das Haus, in dem man lebt, einen prägt, ja ein Teil des eigenen Ichs ausmacht. Nun jährt sich der Todestag von Ignatz Bubis zum 25. Mal. Er hat ein sehr großes Haus errichtet. Ein Haus, das er gleichzeitig auch verkörperte. Es wurde mit den Jahren so groß, dass es für viele andere zu einer prägenden jüdischen Erfahrung werden konnte.

Dabei meine ich nicht nur die Errichtung des heute nach ihm benannten Ignatz Bubis-Gemeindezentrums in Frankfurt. Allein darin findet man die Zukunft: einen Kindergarten, eine Schule, ein koscheres Restaurant, aber vor allem ein Haus, das bis heute ein wesentlicher Ort des Austauschs über die Inhalte jüdischen Lebens geblieben ist.

Nur, sein Haus ist mehr: Es ist einerseits aus Stein, aber darüber hinaus ist es ein Gedankengebäude. Eine Verwandlung von dem, was Ernst Bloch »Heimat« genannt hat. Etwas, was ursprünglich zum Haus gehört. »Nur, wenn die Welt nicht mehr Heimat sein kann«, schreibt Bloch, »dann wird sie zur Utopie. Ein Ort, der in die Kindheit scheint, worin (aber) noch niemand war.« Ignatz Bubis hat seine Utopie, den Ort, wo noch niemand war, zu Lebzeiten errichten können. Für viele schuf er ein Stück innere jüdische Heimat. Er war dabei durch und durch geradeaus. Es gab Dinge, die waren für ihn nicht verhandelbar. In der Paulskirche, anlässlich der furchtbaren Rede von Martin Walser über die »Moralkeule Auschwitz«, blieb er als Einziger sitzen. Er wusste, wie es war, als Zwangsarbeiter um sein Leben gekämpft zu haben. Dazu wurde er mehr als vier Jahre lang gezwungen: im selben Lager wie meine Eltern.

Als man in Frankfurt Der Müll, die Stadt und der Tod von Rainer Werner Fassbinder über den Juden B aufführen wollte, stand er selbst auf der Bühne und hat dagegen vehement opponiert und schlussendlich die Aufführung verhindert. Nicht, weil er vermeintlich selbst damit gemeint war, sondern weil Stadt, Müll und Tod in seinem Kopf etwas ganz anderes darstellte als das Bauen für das Wirtschaftswunder.

Zur Geradlinigkeit gesellte sich aber über die Jahre und besonders als Zentralratspräsident noch etwas anderes: Ignatz Bubis war ein Kümmerer, der besonders am Gedeihen kleinerer oder ganz neu gegründeter jüdischer Gemeinden ein hohes Interesse hatte. In Offenbach vermittelte er der Gemeinde einen Rabbiner, den ersten seit 1942. Er rief mich damals an und sagte: »Ich habe über New York einen Weg gefunden, wie ihr einen Rabbiner zu euch holen könnt. Er ist noch jung, vielleicht auch etwas unerfahren, dafür ist man aber von New York aus willens, euch finanziell zu unterstützen.« Bis heute amtiert er in Offenbach.

Einige Jahre später bat er mich, dabei mitzuwirken, dass die Stadt Speyer wieder eine Synagoge erhält. Es gab dort eine neue Gemeinde und verschiedene mögliche Bauplätze. Ich solle das untersuchen. Die Einweihung der neuen Synagoge im Jahr 2011 hat er nicht mehr erlebt. Kurz vor seinem Tod bat er mich zu sich nach Hause; zuerst war es ein zwangloses Gespräch. Dabei saß er bereits im Rollstuhl. Allmählich wurde klar, warum ich neben ihm saß: Er wollte sich von mir verabschieden. Als ich ging, wusste ich, dass ich diesen gütigen und humorvollen Menschen, einen großen Bürger unserer jüdischen Gemeinschaft, aber auch unseres Landes nie mehr wiedersehen würde. Eines bleibt: The House That He Was – es steht bis heute.

Elvira Grözinger, ehemalige Referentin von Ignatz Bubis
Als mich im November 1992 Ignatz Bubis, der Vorsitzende der Frankfurter Jüdischen Gemeinde, in der ich viele Jahre ehrenamtlich sehr aktiv war, nach seiner Wahl zum Präsidenten des Zentralrats bat, seine persönliche Referentin zu werden, war es für mich klar, dass ich ihm die Bitte nicht abschlagen konnte. In den ersten Tagen saß ich in meinem Büro auf dem Boden und sortierte erst einmal die Aktenberge, um mich mit der neuen Thematik vertraut zu machen. Bubis kam herein und sagte: So mache ich es auch. Die erste Hürde war genommen, aber viele weitere sollten folgen.

Anfang 1993 organisierte ich die erste Reise des neuen Zentralrats nach Israel zu Gesprächen mit Premier Yitzhak Rabin, dem gerade gewählten aschkenasischen Oberrabbiner Israel Meir Lau, dem damaligen Bürgermeister von Jerusalem, Teddy Kollek, und vielen anderen.

Zurück in Deutschland wurden wir wieder mit Tausenden antisemitischen Zuschriften konfrontiert, die voller Beleidigungen und Drohungen an ihn, aber auch an mich persönlich über meinen Schreibtisch gingen. Bubis hatte eine schier unerschöpfliche Energie, schlief wenig, hatte keine Zeit dafür. Ich arbeitete oft bis spät, es war dann ruhiger. Einmal musste ich meinen kleinen Hund mit ins Büro nehmen. Bubis stürmte herein, und der Hund knurrte ihn an. Ich entschuldigte mich, Bubis sagte aber lächelnd: »Er darf das.«

Wenn es im Beisein von Dritten um vertrauliche Dinge ging, sprachen wir oft Polnisch miteinander. Er vertraute mir und spürte, dass ich ihn respektierte und persönlich sehr mochte. Ich bewunderte seinen scharfen Verstand, sein Gedächtnis, die schnelle Auffassungsgabe und Intelligenz wie auch seinen Mut und seine Hilfsbereitschaft. Allmonatlich kam ein älterer Mann, für den immer ein Briefumschlag mit einer bestimmten Summe Geld bereitlag. Bubis war sehr menschlich, freigiebig und ein echter Zionist, unter anderem war er ein großer Förderer der Jerusalem Foundation.

Gern erzählte er unzählige jüdische Witze, hatte Freude an gutem Essen. In einem Interview charakterisierte seine Frau ihn einmal verschmitzt: »Mein Mann mag alles, was mit ›A‹ anfängt, a bissl das, a bissl jenes.« Ich zog weg, wir blieben in Kontakt. Zuletzt, von Krankheit gezeichnet, resignierte Bubis. Seine Warnungen waren geradezu prophetisch – leider, muss man hinzufügen. Der aktuelle Antisemitismus-Tsunami gibt ihm recht.

Stephan J. Kramer, ehemaliger Mitarbeiter von Ignatz Bubis und jetziger Präsident des Amtes für Verfassungsschutz beim Thüringer Ministerium für Inneres
Bubis war ein Glücksfall für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland. Er vertrat sie würdig, respektvoll und entschlossen. Wenn es sein musste, eckte er ohne zu zögern an. Das bewies er vor aller Augen bei der Bühnenbesetzung in Frankfurt, mit der er, zusammen mit anderen Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde, die Aufführung des stereotypisch antijüdischen Theaterstücks von Rainer Werner Fassbinder Der Müll, die Stadt und der Tod verhinderte.

Als Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, aber auch schon davor, war Bubis um ehrlichen Dialog mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft bemüht. Gegenseitiges Verständnis und Vertrauen waren sein zentrales Anliegen – auch über die ungeheure Kluft hinweg, die durch das Verbrechen der Schoa entstanden war und für ihn auch persönlich stets präsent blieb. »Ich habe nicht vergessen, wer meine Familie ermordet hat«, sagte er in einem Gespräch. Er kämpfte für die Demokratie und gegen den Antisemitismus, und zwar in vollem Bewusstsein dessen, dass Antisemitismus ein Gift für die Demokratie ist, nicht nur eine Gefahr für Juden.

Was in der deutschen Öffentlichkeit vielleicht weniger bekannt war, war sein Einsatz für das demokratische Deutschland innerhalb der jüdischen Welt. »Die Deutschen von heute sind keine Nazis«, schärfte er seinen jüdischen Gesprächspartnern aus den USA bei einer internen Besprechung ein – in schönstem Jiddisch. Kurz vor seinem viel zu frühen Tod resignierte er dennoch manchmal. »Ich habe nichts bewirkt«, beklagte er. Diese Zweifel schmerzten ihn. An seiner historischen Leistung ändern sie aber, versteht sich, nichts.

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