Vor einiger Zeit traf Stella Schindler-Siegreich in Worms eine Gruppe von Schülerinnen. Die Mädchen einer jüdischen Schule waren mit dem Bus aus London angereist, um den Friedhof »Heiliger Sand« zu sehen, der mit mehr als 2500 Gräbern der älteste und am besten erhaltene jüdische Friedhof in Europa ist. Er wurde im 11. Jahrhundert zeitgleich mit der ersten Synagoge in Worms angelegt.
Schindler-Siegreich ist Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mainz, wohnt aber in der Nähe von Worms und führt oftmals selbst Besuchergruppen über den Heiligen Sand. Hier sind bedeutende Rabbiner begraben, wie Schlomo ben Jizchak, der »Raschi«, einer der bedeutendsten Gelehrten des Judentums im Mittelalter.
Touristen Der Wormser Friedhof ist für die Gemeindevorsitzende »eine Brücke in die Vergangenheit und zu den Rabbinern, die heute noch unser Alltagsleben prägen. An Worms kommt man einfach nicht vorbei«. Die Stadt sei Anziehungspunkt für jüdische Besucher und viele Touristen aus Israel. »Im Sommer treffe ich fast täglich israelische Gruppen in Worms und Mainz«, berichtet Schindler-Siegreich.
Die SchUM-Städte stehen seit 2014 auf der Vorschlagsliste Deutschlands für Weltkulturerbestätten. 2020 soll die Bewerbung bei der UNESCO in Paris eingereicht werden, ein Jahr später könnte bereits eine Entscheidung fallen. SchUM ist ein Akronym aus den Anfangsbuchstaben der mittelalterlichen Namen Schpira, Warmaisa und Magenza für Speyer, Worms und Mainz. Die drei Orte galten als das »Jerusalem am Rhein« und waren Mittelpunkt jüdischer Weisheit und Gelehrsamkeit.
»Sie waren das Epizentrum für Juden«, sagt die Historikerin Susanne Urban. Viele der wichtigsten Gelehrten haben hier studiert und unterrichtet. Die 48-Jährige ist seit November 2015 Geschäftsführerin des Vereins »SchUM-Städte Speyer, Worms, Mainz«. Ihm gehören das Land Rheinland-Pfalz, die Städte Worms, Speyer und Mainz, die Jüdische Gemeinde Mainz, die Jüdische Kultusgemeinde der Rheinpfalz und der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Rheinland-Pfalz an. Rund 140.000 Euro stehen als jährliches Budget zur Verfügung.
Mittelalter Urban wirbt um Aufmerksamkeit für die Besonderheit der Städte und kümmert sich darum, dass die Bewerbung als Weltkulturerbe in Schwung kommt. Sie glaubt fest an den Erfolg. »Die drei Städte waren vom 11. bis 14. Jahrhundert religiös und auch architektonisch ein Verbund. Im Synagogen- und auch Mikwenbau etwa haben sie eine neue Architektursprache erfunden«, sagt Urban. So wurde 1212 in Worms ein Frauentrakt an die Synagoge angebaut, was zu dieser Zeit sehr ungewöhnlich war. Speyer übernahm die Idee. Auch die romanischen Mikwen entstanden auf diese Weise. Als Turm in die Erde gebaut statt an den Fluss, waren sie Statussymbol, nicht Zweckbau. Speyer war hier der Vorreiter für Worms.
Zusammen mit dem Friedhof in Mainz können die drei Städte sechs Monumente in die Waagschale für die UNESCO-Bewerbung legen. »Die SchUm-Städte waren ein Zentrum für ganz Europa.« Es gibt in Rumänien eine Synagoge aus Holz, in deren Decke sich ein großes Bild von Worms befand, erzählt die Historikerin. Sie hält die Bewerbung für aussichtsreich. »Es wäre die erste Weltkulturerbestätte, die das Judentum ins Zentrum stellt«, betont Urban. Zwar gebe es beispielsweise Masada in Israel, aber dessen Wurzeln seien römisch, nicht jüdisch. Der Welterbe-Status für die SchUM-Städte würde ihrer Ansicht nach ein Zeichen setzen und jüdische Geschichte als deutsches, europäisches und Welterbe wertschätzen.
Das sieht auch Stella Schindler-Siegreich so. »Es wäre die Anerkennung, dass jüdische Geschichte seit Jahrhunderten zu diesem Land und dieser Gesellschaft gehört.« Die SchUM-Städte bedeuten für sie, »dass es auch eine Geschichte vor der Schoa gab, an der sich viele Menschen orientiert und deren Lehren bis heute Einfluss haben«. Auch in Israel, sagt sie, sei man sich der Geschichte und der historischen Spuren der SchUM-Städte sehr bewusst.
Tourismus Touristisch und kulturhistorisch spielen diese jüdischen Wurzeln bereits heute eine wichtige Rolle für die drei Städte – erst recht seit der UNESCO-Bewerbung, aber auch unabhängig davon. »Wir merken schon jetzt, dass mehr Besucher kommen«, sagt Susanne Urban, darunter viele Schulklassen, aber auch Erwachsenengruppen – Juden wie Nichtjuden.
In Frankfurt, berichtet Stella Schindler-Siegreich, gebe es etwa ein Taxiunternehmen, das sich auf die SchUM-Städte spezialisiert hat und Besucher nach Worms, Speyer oder Mainz fährt. Bei einer erfolgreichen Welterbe-Bewerbung müssten diese Besucherströme mehr gelenkt werden, sagt Susanne Urban. Ein UNESCO-Besucherzentrum müsste gebaut, das museale Angebot und die Zahl an Führungen ausgebaut werden. Auch daran arbeitet Urban. Übung hat sie darin. Zuvor war sie Mitarbeiterin im Jüdischen Museum in Frankfurt.