Eigentlich sollte es eine Theatertour zum Gedenken an die Schoa durch die Straßen Potsdams im vergangenen Frühling werden. Mitten im Stadtzentrum zwischen alter und zukünftiger Synagoge wären Schauspielerinnen auf der Straße aufgetreten – mit Texten, Gesang, Performances. Das Publikum wäre von einem Stolperstein zum nächsten gelaufen. Alles war unter Dach und Fach, die Szenen während eines fünftägigen Workshops entwickelt, die aufwendigen Genehmigungen eingeholt, der Ticketverkauf hatte begonnen. Aber dann kam der März-Lockdown, gerade einmal zwei Tage vor der ersten Tour.
Es dabei zu belassen, war keine Option für die beiden Initiatorinnen, die israelische Schauspielerin und Regisseurin Sharon Kotkovsky und die deutsche Theaterpädagogin Sabine Wiedemann. »Wir wollten wenigstens etwas über unser Projekt in der Hand haben«, erläutert Wiedemann. Im Sommer filmten sie die Szenen an den ursprünglich geplanten Stationen.
YOUTUBE Daraus ist ein Video auf YouTube mit dem Titel »Unter Nachbarn – eine Theatertour entlang der Stolpersteine« geworden. Die verschiedenen Theaterszenen verleihen den im Bürgersteig eingelassenen Messingplatten eine neue, künstlerische Dimension. Außerdem verbindet das von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und vom Land Brandenburg geförderte Projekt die im Boden sichtbar gewordenen Spuren der Schoa mit dem heutigen Antisemitismus. Denn es stellt die Frage, wie man heute richtig gedenken kann, damit es mehr Menschen dazu bewegt, wachsam und mutig zu sein. Die Antwort von Kotkovsky und Wiedemann drückt sich durch die sensible Art ihrer künstlerischen Gestaltung aus.
Inhaltlich wirft der Film dieselben Fragen wie die Theatertouren auf, wenngleich mit anderen Mitteln. In einer Szene zitiert eine Schauspielerin die unterschiedlichen Standpunkte zu Stolpersteinen: pro und contra. Sie lässt sie im Raum stehen, sie bezieht kaum Position. »Mir war es sehr wichtig, bei so einem sensiblen Thema wie der Schoa niemanden zu verletzen, auch nicht diejenigen, die uns nicht wohlgesonnen sind«, sagt Kotkovsky. Damit meint sie nicht einzelne antisemitische Reaktionen, die es am Rand des Projekts gab, sondern die heftige Diskussion, die sie mit Facebook-Nutzern aus München führte. Deren Vorwurf: Das Projekt sei Theater mit »Kostümjuden«.
»Das hat mich sehr getroffen, denn ich stelle mir selbst immer intensiv die Frage, ob es überhaupt möglich ist, der Schoa mit Kunst zu gedenken. Dürfen wir die Biografien für ein Theaterprojekt benutzen? Wenn ja, wie?«, fragt Kotkovsky. Sie zitiert Adorno: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.« Dennoch habe sie entschieden, es zu tun – nur sehr behutsam und respektvoll. »Handle with care – das könnte unser Motto sein. Die Frage ist für mich nicht mehr, ob wir es dürfen, sondern wie wir es tun.«
Kernthema ist die aktuelle Debatte: Wie gehen wir damit um? Welche Lehren ziehen wir daraus?
»Im Gegenschluss nichts zu machen, ist auch keine Lösung«, ergänzt Wiedemann. In Archiven recherchierte sie nach Hintergrundmaterial zum jüdischen Leben in Potsdam zur Zeit der Nationalsozialisten. Nüchternes Vorlesen von Archivquellen im offiziellen Gedenkstil konnten sich die beiden Potsdamerinnen nicht vorstellen.
KANTOR Ein Theater mit therapeutischer Absicht wie das Zeitzeugentheater – das passte auch nicht ganz zu ihrer künstlerischen Ader. Beim Zeitzeugentheater begegnen Überlebende jungen Menschen und berichten ihnen von ihrem Leidensweg im sogenannten Dritten Reich. Anschließend präsentieren sie gemeinsam auf der Bühne die Fakten jeder Biografie.
Schließlich holten Kotkovsky und Wiedemann lediglich ein oder zwei Aspekte aus den Lebenswegen der ermordeten Juden heraus und verwandelten sie dramaturgisch. So singt eine Schauspielerin liturgische Lieder vor der Gedenktafel der damaligen Synagoge. Dabei putzt sie voller Zartheit den Stolperstein des Oberkantors.
Die theatralische Inspiration war die Bedeutung der Musik in seiner Biografie. »Wir zitieren nur einmal ein historisches Dokument, wir wollten nicht die Geschichten der Opfer eins zu eins illustrieren, sondern vorsichtig etwas Neues daraus schöpfen, einen Moment der Freiheit und der Würde herauskristallisieren, der zu ihnen passt«, erklärt Wiedemann.
»Präsentieren wir nur die Fakten der Geschichte, dann macht es im Gehirn wieder dieselbe Schleife, und es verändert sich wenig«, meint sie. Insofern sei ihr Kernthema weniger der Horror von damals als die aktuelle Debatte: Wie gehen wir damit um? Wie tolerant sind wir gegenüber unterschiedlichen Umgangsarten? Welche Lehren ziehen wir daraus?
INSTAGRAM Von kritischen Reaktionen in Israel berichtet Sharon Kotkovsky, als das Tagebuch von Anne Frank auf Instagram veröffentlicht werden sollte. »Das gab Ärger«, erklärt sie. »Aber am Ende ist es auf Instagram gut geworden, sehr sensibel. Eine neue Technik kam zum Einsatz. Ich finde es gut, um die jüngere Generation zu erreichen.«
Sie respektiere die vielen Möglichkeiten des Gedenkens. Sie selbst habe nie eine KZ-Gedenkstätte besucht, wie fast alle jungen Israelis es tun. Sie möchte es für die Zukunft nicht völlig ausschließen, weiß aber, dass es nicht einfach werden würde. »Das Theater gibt mir eine gewisse Distanz, und so kann ich Gedenkarbeit leisten.«
Über das Potsdamer Stolperstein-Theater tauschte sie sich vorab mit einem orthodoxen Rabbiner aus. Sie wollte ihn darüber informieren und sich auch vergewissern, dass er es in Ordnung findet. »Er hatte sogar vor, selbst bei einer Tour dabei zu sein«, freut sie sich.
Bei der Verwandlung vom Theater zum Film musste das Potsdamer Duo viel Interaktivität aufgeben. Ursprünglich gehörte der Gang des Publikums zwischen den Auftrittsorten bewusst zur Dramaturgie, damit es jede Szene innerlich verarbeiten kann. An manchen Orten sollten die Zuschauenden eine Aufgabe erfüllen, zum Beispiel während der Versteigerungsszene der Wertsachen einer deportierten Frau.
Zuschauer sollten selbst in einer Mitmach-Szene Wertsachen einer Deportierten ersteigern.
Die Schauspielerinnen hätten die Zuschauer dazu aufgefordert, selbst Kunde zu werden und einen höheren Preis zu bieten. »Theater gerade an den Orten zu spielen, an denen die Schoa vor wenigen Jahrzehnten ihren Anfang nahm, hat eine enorme Wirkung, die es im Film nicht gibt«, betont Wiedemann. »Es sind die Häuser, es sind die Straßen, in denen alles geschah. Unser Auftritt hätte vor Ort Spuren hinterlassen, er hätte nachgehallt. Ortsspezifisches Theater lebt von den Plätzen, an denen es stattfindet, und verändert diese öffentlichen Räume gleichzeitig«, beschreibt die Theaterexpertin ihr Vorhaben.
BEWUSSTSEIN Last but not least fehlte ihr im Film auch das unfreiwillige Publikum aus der Potsdamer Innenstadt: »Film oder Theater in geschlossenen Räumen erleben nur die Menschen, die Karten gekauft haben oder Zugang dazu bekommen. Bei unserem Straßentheater hätten noch mehr Menschen eine zivilgesellschaftliche Haltung mitbekommen – ob sie es wollten oder nicht.«
In der Bevölkerung Potsdams sei das Bewusstsein über die Stolpersteine aktuell eher gering. In Schulen würden einige Jugendliche über die Biografien der Menschen recherchieren, deren Name auf den quadratischen Messingtafeln steht, wenn sie engagierte Lehrer haben. Allerdings hatten die Dreharbeiten den Vorteil, dass viele Anwohner genauso wie bei der Theaterversion dazu angeregt wurden, sich mit dem Thema zu beschäftigen. »Erstaunlich viele stellten uns Fragen«, berichtet Wiedemann. Einzelne reagierten negativ, andere sehr neugierig oder gar zugewandt.
An den Drehtagen im August 2020 konnten einige Darstellerinnen, die an den Touren im März hätten mitmachen sollen, nicht teilnehmen. »Ganz besonders vermissten wir die zentrale Kunstfigur, die an den Stolpersteinen geführt hätte. Die wunderbare, israelische Berlinerin Hila Rubinstein hätte sie gespielt«, bedauert Sharon Kotkovsky. Sie hätte wie eine Art guter Geist mit Kenntnissen aus den historischen Archiven gewirkt.
übergänge Mit ihrem leichten und doch tiefsinnigen Humor hätte sie für inspirierende Übergänge gesorgt. »Hila und ich sind beide Israelinnen. Deswegen können wir uns schwarzen Humor erlauben, auch über die Schoa. Allerdings nur, wenn der Rahmen dazu passt. Hier in Potsdam haben wir ihn leichter dosiert. Hila sollte mit ihrer Rolle für Pausen zwischen den Szenen sorgen, damit alles nicht zu heftig für das Publikum wird«, erklärt Kotkovsky.
Die vier Schauspielerinnen, die im Film zu sehen sind, haben sich aus freiwilligem Engagement daran beteiligt. Dass es schließlich nur Frauen wurden, sei keine Absicht, erklärt Kotkovsky, es habe sich so ergeben. Bei den Dreharbeiten im Sommer stellten Kotkovsky und Wiedemann fest, dass sie die letzte Theaterszene aktualisieren mussten. Dort listet die Schauspielerin antisemitische Vorfälle der jüngsten Zeit auf. Trotz des kurzen zeitlichen Abstands mussten sie mehrere hinzufügen. Schon das ist für beide Grund genug, das Thema auch nach dem Ende der Pandemie weiter auszugestalten.