Pessach

Entdeckung der Freiheit

Zeit des Lichts, Zeit innezuhalten, Zeit des Wandels – der Befreiungsgedanke zu Pessach hat für jeden eine andere Bedeutung. Foto: Thinkstock

Pessach befreit – auch heute noch? Die jungen Freiburger Tuvia Navon, Nikita Karavaev und Dimitri Tolkatsch fühlen sich im Vergleich zur Sklaverei, die zum Auszug aus Ägypten führte, sehr privilegiert. Aber natürlich kennen auch sie Zwänge und suchen nach Wegen, um freier zu werden. Bei Tuvia Navon war das einer der Gründe, warum er sich für sein Klavierstudium an der Musikhochschule entschieden hat.

Er wollte eine Alternative finden zum Leistungsdruck, den er in der heutigen Arbeitswelt überall spürt. Musik ist anders, findet er: »Kunst lässt Freiräume, um Individualität auszudrücken.« Sie sei nicht messbar, anders als Mathematik, und nicht nur einem einzigen Zweck untergeordnet wie Ökonomie, wo es einzig und allein um Gewinnmaximierung geht.

Druck Klar ist aber, sagt Navon: »An der Musikhochschule gibt’s trotzdem untereinander auch einen ganz eigenen, ungeheuren Druck.« Und der 21-Jährige ahnt, dass er für seine Zukunft Kompromisse wird eingehen müssen, um sich finanziell über Wasser halten und dennoch kreativ sein zu können. Wahrscheinlich werde er Musiklehrer und Einbußen für die Kunst in Kauf nehmen, um einen sicheren Beruf zu haben, sagt Tuvia Navon.

Auch Nikita Karavaev kennt Zwänge vor allem vom Arbeitsleben: Neben seinem Jurastudium jobbt er, das macht ihm meist keinen Spaß. Aber immerhin: »Arbeitnehmer haben heutzutage zumindest gewisse Rechte wie Kündigungsschutz und Tarifverträge, die sie sich im Laufe von Jahrhunderten erkämpft haben.« Auch wenn das nicht für alle und erst recht nicht weltweit gelte.

Für ihn sei schon in seiner Jugend klar gewesen, dass er sich für mehr Freiheit einsetzen will, darum engagiert sich der 30-Jährige politisch in der Partei »Die Linke« und kämpft für mehr materielle Gerechtigkeit. Nur in einer Gesellschaft ohne große materielle Gräben gebe es weniger Zwänge und könnten sich Menschen gut entfalten, ist seine Überzeugung.

Kämpfen muss man aber auch, damit alles, was an Freiheit erreicht wurde, bewahrt bleibt, findet der Historiker Dimitri Tolkatsch, der zurzeit seine Doktorarbeitüber die Revolution und den Bürgerkrieg in der Ukraine vor 100 Jahren schreibt. Für ihn ist Pessach aus einem beunruhigenden Grund hochaktuell: »Rechtspopulistische Tendenzen wie die Pegida-Bewegung und die Partei AfD vertreten ganz klar antifreiheitliche Positionen.«

Den 32-Jährigen schockiert, wie schnell viele Menschen bereit sind, ihre Freiheiten aufzugeben, weil sie diese für selbstverständlich halten und sie nicht mehr bewusst wahrnehmen. Auf jeden Fall werde die Botschaft von Pessach für ihn gerade durch diese Bedrohungen sehr zentral und modern, sagt Tolkatsch. Anja Bochtler

wandel Pessach, das Fest des Auszugs aus Ägypten, die Befreiung aus der Sklaverei ist für Eldad Stobezki die Zeit eines Wandels: Der harte deutsche Winter ist im Rückzug, die Bäume werden grün. Er fühlt sich wie neu geboren, sagte der 64-Jährige. »Nach einem Winterschlaf krieche ich aus dem Schlupfloch und merke, es ist Zeit, etwas zu ändern, alte Muster zu durchbrechen, etwas Neues zu machen.« Silvestervorsätze hätten nur dann wirklich Sinn, wenn die Primeln, die Tulpen und die Narzissen blühen.

Groß sei für ihn der Wunsch in dieser Jahreszeit, sich von der Uhr zu befreien, sagt er. Aufstehen, frühstücken, in die Natur hinaus – »solange die Sonne scheint«. Arbeit soll später erledigt – oder noch besser: liegen gelassen – werden, meint der Übersetzer. »Wandern ist gut, wenn man sich vom Winterspeck befreien will. Und das tue ich jetzt.« Aber damit sei er auch von Zwängen befreit.

Was zu erledigen ist, macht er lieber sofort. »Wenn mir ein selbst gebackener Apfelkuchen angeboten wird, muss die Diät einen Tag warten«, da ist er großzügig. »Und wenn mir mehr nach einem guten Roman zumute ist, dann lese ich.« Das befreie ihn sogar vom Zwang, alle 20 Minuten auf dem Handy nach Nachrichten zu suchen.

»Wenn wir alle am Sedertisch sitzen, wünsche ich meinen Freunden in Gedanken, dass sie ihren privaten Auszug aus Ägypten vollbracht haben, auch wenn es in diesem Jahr nur kleine Schritte waren, auch wenn das Rote Meer sich nicht geteilt hat«, sagt der Frankfurter. Er wünscht sich selbst und allen, so frei zu sein, »dass wir unser Leben genießen können, dass wir geschickt unsere Sache machen, ohne die unmittelbare menschliche Umgebung zu ärgern«. Von Freiheit zu sprechen sei nur dann sinnvoll, ist er überzeugt, wenn sie niemanden binde. »Innere und äußere Freiheit bleiben immer eine Gratwanderung, die sich an die sozialen und menschlichen Umstände anpassen muss. Ich wünsche allen Befreiung, wie auch immer jeder sich das vorstellt.« Annette Kanis

Offenheit In jedem Leben gebe es Fesseln, Zeichen der Unfreiheit, meint Moran Haynal. »Ich beobachte mich und ich beobachte die anderen.« Er führt als Sofer und Künstler ein jüdisches Leben in Deutschland. Als Jude fühlt er sich in einer nichtjüdischen Welt dennoch frei. Das Judentum trage ja die Idee von Freiheit in sich.

Wenn er jedoch andere Menschen beobachte, andere jüdische Menschen, die hier leben, dann spüre er häufig etwas von Unfreiheit. »Ich denke: Da läuft etwas falsch.« Sich mit seiner Identität zu verstecken, mache unfrei, sagt der 66-Jährige. »Wer sich traut, wer stolz auf sein Judentum ist, der wird frei sein und sich frei fühlen. Ich zeige mich offen als Jude, habe immer meine Kippa auf dem Kopf – obwohl ich in einer Gegend von München wohne, wo vor allem Muslime zu Hause sind – und erfahre dabei nur Positives, erfahre freundliches Interesse an meiner Person.« So wie Hunde riechen, wenn jemand Angst hat, so spürten Menschen, wenn jemand nicht offen ist. Das erzeuge eine ungute Atmosphäre. Und das sei das Gegenteil von Freiheit, ist der Sofer überzeugt.

Ihn mache etwas anderes unfrei: Es sei der Kampf um Zwanglosigkeit, um Kontakte, die etwas bedeuten, um Offenheit, aus der etwas entsteht, um echte gegenseitige Beachtung. »Ich habe lange in Israel gelebt«, erzählt Haynal. Da sei es ganz anders. »Da trifft man sich ungezwungen, erzählt, besucht sich ohne große Anmeldung.« Hier in Deutschland kämpfe man sozusagen täglich um die Befreiung aus einer Art von gesellschaftlicher Isolation, und das empfindet der 66-Jährige als sehr ermüdend. Niemand spreche mit einem, man gehe sich aus dem Weg, und E-Mails würden manchmal noch nicht einmal beantwortet werden.

»Ich bin Sofer, bin Grafiker, Maler, ein Künstler, das bedeutet: Ich muss produzieren. Ein Tag, an dem ich nichts angepackt habe, ist für mich ein schlimmer Tag. Am Schabbat male ich nicht, aber spätestens am Sonntagnachmittag sitze ich wieder vor meiner Staffelei. Man könnte das auch eine Art von Unfreiheit nennen, aber dieser Drang, dieser Zwang – so sehe ich das – gehört zu einem Künstler. Der Künstler hat keine andere Wahl als zu schaffen.« Katrin Diehl

Beweise Sie müsse niemandem etwas beweisen, sagt Stella Perevalova aus Hannover. »Mein Leben ist sehr ausgefüllt, und ich arbeite so viel, dass meine Freunde manchmal sagen, ich sei verrückt und solle mal eine Pause machen.« Trotzdem empfinde sie keine Zwänge, sagt die 46-jährige ausgebildete klassische Konzertpianistin. Gezwungen werde sie nur von der Musik, »und das ist ein positiver Zwang«. Wenn sie einmal ein paar Tage nicht probe oder spiele, fühle sich das für sie wie ein Entzug an. »Ich bin ein Workaholic. Arbeit ist meine Droge. Natürlich könnte ich auch mal Urlaub machen – aber dann sage ich mir: Es gibt so viel zu tun, Ferien kannst du auch später noch machen.« Zeit, einfach einmal die Füße hochzulegen, gebe es bei ihr eigentlich nicht.

»Ich mag diesen deutschen Spruch: ›Was nicht geht, wird gefahren.‹« Wenn jemand eine neue Aufgabe für sie habe, lehne sie selten kategorisch ab. Leute, die immer gleich ablehnen, mag sie nicht besonders. »Ich sage allenfalls ›Jein‹, um mir ein Hintertürchen offenzulassen. So war es auch, als man mir im vergangenen Herbst die Leitung des Chores der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover antrug.« Sie habe wirklich lange überlegt, ob sie das zusätzlich zu ihrer Musikschule, den Proben und Konzerten, ihrem Projekt über verbotene jüdische Musik des Dritten Reichs und ihren vielen anderen musikalischen Verpflichtungen zum Beispiel in Seniorenheimen und Schulen noch übernehmen solle. »Dann habe ich gesagt: ›Ich versuche es‹. Und jetzt hatten wir unseren ersten Auftritt mit Liedern des legendären Vokalensembles Comedian Harmonists, und es hat allen sehr gut gefallen.«

Sie brauche diese Bestätigung, die positive Energie. Das treibe sie an, erzählt Stella Perevalova. Sie stecke sich hohe Ziele, was sie anpacke, müsse auch gut werden, lautet ihre Maxime. »Wenn ich nach einem Konzert Beifall und Blumen bekomme, ist das manchmal immer noch unwirklich für mich: Unglaublich – das bin ich, das habe ich geschafft!«, sage sie sich dann manchmal.

Disziplin Möglicherweise seien dieser Ehrgeiz und diese Disziplin ein innerer Zwang. Das könne sie selbst gar nicht richtig beurteilen. Ohne Disziplin und Verantwortungsbewusstsein laufe gar nichts. »Aber ich muss höchstens mir selbst etwas beweisen.« Stella Perevalova überlegt, woher das wohl kommen mag. »Vielleicht hat das mit meiner musikalischen Ausbildung in Moskau zu tun, die schon in meinem fünften Lebensjahr begann.

Damals gab es immer nur Druck. Das war wie Leistungssport: Du musst gut sein, gute Noten haben. Ständig gab es Prüfungen.« Das sei damals schon überfordernd gewesen. Einige Musiker seien daran zerbrochen oder wurden depressiv. »Ich hingegen würde depressiv werden, wenn ich einen Gang herunterschalten würde. Das wäre dann nicht mehr ich. Ein Tag, an dem ich nichts mache, ist für mich ein verlorener Tag.« Karin Vogelsberg

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