Die Anrede »Liebe Abiturientinnen, lieber Marc« war am vergangenen Donnerstag oft zu hören. Die I. E. Lichtigfeld-Schule der Jüdischen Gemeinde Frankfurt verabschiedete den ersten Abiturjahrgang an einer jüdischen Schule in Frankfurt und Hessen seit 1939. Zehn Abiturientinnen und einen Abiturienten zählt dieser besondere Jahrgang. Um den historischen Anlass gebührend zu begehen, durften unter Berücksichtigung der geltenden Corona-Verordnungen und Hygienemaßnahmen sowie in Absprache mit dem Frankfurter Gesundheitsamt etwa 100 nachweislich negativ getestete, geimpfte oder genesene Gäste im feierlich geschmückten Festsaal des Ignatz-Bubis-Gemeindezentrums an Tischen Platz nehmen.
In seiner Ansprache blickte Harry Schnabel, Vorstandsmitglied und Schuldezernent der Frankfurter Gemeinde sowie Präsidiumsmitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland, zunächst zurück. Er erinnerte an die erste Abiturprüfung an der Vorgängerinstitution der Lichtigfeld-Schule, dem Philanthropin, im Jahr 1928. »Das Glück währte nicht lange«, betonte Schnabel. 1939 sei am Philanthropin zum letzten Mal das Abitur abgenommen und 1942 die Schule zwangsgeschlossen worden.
2006 erhielt die Lichtigfeld-Schule ihre Gymnasialausrichtung.
Die 1966 als Grundschule neu gegründete und nach ihrem Mitinitiator Rabbiner Isaak Emil Lichtigfeld benannte Schule habe, so Schnabel, 2006 endlich ihre Gymnasialausrichtung erhalten. Später habe die Gemeinde die Einführung der gymnasialen Oberstufe beschlossen. Harry Schnabel dankte dem ehemaligen Schuldezernenten und früheren Zentralratspräsidenten Dieter Graumann für seinen Einsatz und Rat.
Bedeutung Als eigentliche Hauptpersonen dieses Tages benannte Schnabel aber die elf Abiturienten: »Ihr wart euch der Bedeutung dieses besonderen Abiturs von Anfang an bewusst.« Dieses Abitur sei auch historisch bedeutungsvoll für die noch lebenden ehemaligen Schüler des Philanthropin, betonte Schnabel. Die Jüdische Gemeinde Frankfurt habe Kontakt mit ihnen aufgenommen: »Wir lösten Glücksgefühle und bewegende Erinnerungen aus.« Diesen Tag widme man, so Schnabel weiter, allen ehemaligen Schülern des Philanthropin, die verfolgt wurden oder gar ihr Leben verloren. Es sei aber auch ein Tag der Freude, resümierte der Schuldezernent: »Feiert, was die aktuelle Hygieneverordnung hergibt!«
Hessens Kultusminister Alexander Lorz (CDU) sprach von einem »großen Moment«. Die Lichtigfeld-Schule setze 80 Jahre nach der Zäsur die Tradition der größten jüdischen Schule auf deutschem Boden fort. Der Tag sei ein Zeichen dafür, dass der Terror nicht über das Leben triumphiert habe, dass das jüdische Leben aufblühe und sichtbarer werde. Er stehe aber auch im Zeichen des neu auflebenden Antisemitismus.
Von einem »starken Zeichen« sprach auch Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann. Der Tag sei eine Demonstration jüdischen Selbstbewusstseins in Frankfurt und Deutschland insgesamt. Feldmann würdigte die »Kraft und Stärke« der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. »Sie zeigt, was sie kann, sie ist ehrgeizig.« Er sei stolz, Mitglied dieser Gemeinde zu sein, bekannte der SPD-Politiker. »Die Juden dieser Gemeinde sagen direkt, dass sie Juden sind.«
»Wir waren eine verrückte Familie mit einem Jungen und lauter Mädchen«.
Liran Sahar, stellvertretender Generalkonsul des Staates Israel, würdigte ebenfalls den ersten Abiturjahrgang der Lichtigfeld-Schule. Er sei ein Symbol dafür, dass die jüdische Bildung in Deutschland auch nach der Schoa lebendig ist. »In der jüdischen Tradition ist Lernen unsere Existenzform«, sagte Sahar.
Insel Salomon Korn, Vorstandsvorsitzender der Frankfurter Gemeinde, trug anschließend aus dem Bericht eines ehemaligen Lehrers vor, der die Situation am Philanthropin von 1933 bis 1942 schildert. »Die Schule war eine Insel des Judentums in einer feindlichen Umgebung«, heißt es dort unter anderem. Mit der Zerstörung der Synagogen im November 1938 sei das Schulgebäude zu einem geistigen und kulturellen Zentrum der Juden in Frankfurt geworden. Noch 1941 habe es einen Schulbetrieb gegeben. »Das Philanthropin wurde im 138. Jahr seines Bestehens geschlossen«, so Korn.
Der Frankfurter Gemeindevorsitzende richtete einen Appell an die elf Abiturienten: »Ich hoffe, dass ihr den historischen Zusammenhang, in dem diese Schule steht, in eurer Erinnerung und eurem Bewusstsein bewahren werdet.«
Frankfurt sei nach Berlin und Hamburg die dritte Stadt in Deutschland, die an einer jüdischen Schule das Abitur anbiete, berichtete Schulleiterin Noga Hartmann. Den diesjährigen Abiturdurchschnitt gab sie mit 1,77 an. Die Abiturnoten reichten von 1,0 bis 2,3. »Das ist hervorragend«, freute sich die Schulleiterin. Als »Helden des Abends« sprach sie die Abiturienten an: »Ihr seid Pioniere. Ihr seid Botschafter des jüdischen Lebens.« Hartmann mahnte die elf zugleich aber auch: »Bleibt der Gemeinde treu, denn sie ist euer Zuhause.«
ENGAGEMENT Elke Maiwald, Leiterin der gymnasialen Oberstufe und Tutorin der Abiturklasse, würdigte das Engagement der Abiturienten: »Mit beeindruckendem Interesse habt ihr in der Nationalbibliothek zu Themen des Exils geforscht, sehr interessante Facharbeiten geschrieben und durch die Ausstellung des Exilarchivs geführt. Im Altenheim sorgtet ihr für gute Stimmung, die digitalen Helden haben so manchen Konflikt in den sogenannten ›Sozialen Medien‹ vermieden oder entschärft.«
Zudem dankte sie allen Beteiligten, »denen eine starke jüdische Gemeinschaft immer am Herzen lag und liegt« »für die jahrelange Unterstützung bei der Bewältigung aller Aufgaben und Probleme im Zusammenhang mit dem erfolgreichen Aufbau dieser Schule.«
Mut Die Elternbeirätin Barbara Bišický-Ehrlich blickt auf den 5. August 2008, als die meisten der diesjährigen Abiturienten an der Lichtigfeld-Schule eingeschult wurden, und die anschließenden 13 Schuljahre zurück. »Ihr seid zu wundervollen jungen Erwachsenen geworden, die uns alle mit großem Stolz erfüllen«, sagte Bišický-Ehrlich. Sie dankte den Abiturienten für ihren »Mut, die Ersten zu sein«.
Zum Gedenken zündeten die Abiturienten von 2021 eine Kerze für die Schüler an, die das Abitur nach 1939 nicht mehr ablegen konnten und in der Schoa ermordet wurden.
Für den Abiturjahrgang ergriffen die Klassensprecherinnen Miriam Freifeld und Jessica Smertenko das Wort. Sie dankten jedem einzelnen Lehrer, während ihre Mitschüler Blumen und Buchgeschenke überreichten. Freifeld und Smertenko bezeichneten ihren Jahrgang als »eine verrückte Familie mit einem Jungen und lauter Mädchen«. »Jeder Tag mit euch war besonders«, sagte sie, an die Mitschüler gerichtet.
Anschließend enthüllten Freifeld und Smertenko das Jahrgangsmotto: »Die Abi-Blase platzt« – und brachten, dazu passend, einen Luftballon zum Platzen. Nach einer kurzen Ansprache und einem Segen des Gemeinderabbiners Julian-Chaim Soussan kam auch schon der lang erwartete Augenblick: Unter lautem Jubel und Applaus des Saals erhielten die zehn Abiturientinnen und der Abiturient der Lichtigfeld-Schule ihre Reifezeugnisse. Sie schrieben damit Geschichte – und zeigten sich geschichtsbewusst, indem sie eine Gedenkkerze für die Schüler zündeten, die das Abitur nach 1939 nicht mehr ablegen konnten und in der Schoa ermordet wurden.