Eigentlich war man zusammengekommen, um etwas Erfreuliches zu feiern, und zwar den 75. Geburtstag der Berliner Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Doch der Abend nahm eine überraschende Wende, weil einer der geladenen Gäste eine Rede hielt, die sich weniger um das Jubiläum drehen sollte. Denn Gesine Schwan, langjährige Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, zweimal gescheiterte Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten sowie Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD, hatte etwas anderes im Sinn: eine Abrechnung mit der israelischen Politik und ihren Akteuren.
Darin behauptete sie, dass das von Premier Benjamin Netanjahu postulierte Ziel des »totalen Sieges« über die Hamas darauf hinausliefe, dass die israelische Armee unterschiedslos Zivilisten und Terroristen töten würde. Dieser sei »in der Logik Carl Schmitts nicht anders als durch eine völlige Vernichtung aller realen und potenziellen Hamas-Kämpfer denkbar. Damit gibt es keine Grenze mehr gegen die Tötung der palästinensischen Zivilgesellschaft«.
Schwan unterstellte Netanjahu damit, den Denkmustern des Nazi-Vordenkers Carl Schmitt zu folgen. Der Philosoph und Jurist hatte die Diktatur der Nationalsozialisten in seinen Schriften legitimiert. So rechtfertigte er unter anderem den Putsch gegen SA-Chef Ernst Röhm mit den Worten: »Der Führer schützt das Recht.«
Es sollte nicht der einzige Nazi-Vergleich von Schwan an diesem Abend sein. Die Brücke dahin führte über das Westjordanland. Die israelische Regierung habe die »zunehmend offene Absicht«, dieses zu annektieren. Fakt ist: Rechte Minister wie Itamar Ben-Gvir oder Bezalel Smotrich fordern von Netanjahu, illegale israelische Siedlungen zu annektieren. Pläne der Regierung, sich das gesamte Gebiet einzuverleiben, gibt es aber nicht. Als Reaktion verließen nach Informationen der Jüdischen Allgemeinen daraufhin mindestens drei Zuhörer empört den Saal, allen voran Gideon Joffe, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
»Als sie auf Netanjahu und Gallant zu sprechen kam, wollte sie gar nicht mehr aufhören«, sagt Claudio Offenberg.
»Wir haben Prof. Dr. Gesine Schwan als Festrednerin eingeladen, deren Beitrag unsere Geschichte und Bedeutung unterstreichen sollte«, hieß es dazu in einer Stellungnahme der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Berlin.
»Leider hat sich Frau Schwan entgegen unseren Erwartungen nicht nur auf das Jubiläum konzentriert, sondern ihre Rede in unangemessener Form auch auf die aktuelle politische Lage in Israel fokussiert. Dabei äußerte sie sich sehr kritisch zum Vorgehen der israelischen Regierung gegen die Hamas, was bei vielen unserer Gäste, insbesondere den jüdischen Mitgliedern, großes Unbehagen und Entsetzen auslöste.«
Man betonte ausdrücklich, dass die Äußerungen von Schwan in keiner Weise die Haltung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit widerspiegeln würde, und bat um Entschuldigung.
Schwan selbst weist jegliche Kritik an ihrer Rede zurück.
Unbehagen und Entsetzen löste das Gesagte auch bei Claudio Offenberg aus. »Der erste Teil der Rede war eigentlich nicht problematisch«, so der Kurator der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. »Als Schwan dann auf Netanjahu, aber auch Ex-Verteidigungsminister Yoav Gallant zu sprechen kam, wurde es geradezu obsessiv. Sie wollte am liebsten gar nicht mehr aufhören.«
Offenberg sprach Schwan unmittelbar nach ihrer Rede noch vor Ort persönlich an. »Ich wollte von ihr wissen, warum sie als Professorin, die ja bestens mit der Situation an den Hochschulen vertraut sein müsste, kein einziges Wort über die problematische Situation jüdischer Studierender an den Universitäten verloren hat.«
Und noch etwas sollte ihn an der Rede zutiefst irritieren: »Ich fragte Frau Schwan, ob ich mich verhört hätte oder sie wirklich ebenfalls kein einziges Wort über die israelischen Geiseln, die sich in der Gewalt der Hamas befinden, gesagt hat.« Die Antworten auf seine Fragen fielen seiner Meinung nach völlig belanglos aus. »Konkret dazu äußern wollte sich Schwan mir gegenüber nicht.«
Schwan selbst weist jegliche Kritik an ihrer Rede zurück. »Als ich im Sommer telefonisch eingeladen wurde, die Festrede zu halten, habe ich gezögert und meine Zusage davon abhängig gemacht, dass ich zuvor besprechen kann, was dabei für mich wichtig sein würde: eine Auseinandersetzung mit dem historischen und dem gegenwärtigen Gebrauch des Wortes Antisemitismus«, teilte Schwan vergangene Woche mit. Dieses Gespräch habe stattgefunden.
Mit ihrem Verständnis des Themas Antisemitismus hat Schwan in der Vergangenheit bereits mehrfach für Irritationen gesorgt.
»Daraus ergab sich die Vereinbarung, dass ich einen größeren Teil der Rede der Geschichte der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit widmen würde und dies in einen kleineren Teil der Auseinandersetzung mit dem aktuellen Gebrauch des Wortes Antisemitismus münden lassen würde«, so Schwan weiter. Daran habe sie sich gehalten. »Das Thema der Rede: ›Verständigung in herausfordernden Zeiten‹ ist dann einvernehmlich vereinbart worden.«
Mit ihrem Verständnis des Themas Antisemitismus hat Schwan in der Vergangenheit bereits mehrfach für Irritationen gesorgt. 2014 sagte die Politikwissenschaftlerin in einer Sendung von Günther Jauch: »Wenn Sie irgendwo in eine Debatte kommen über Religion und Politik, geht es sofort gegen den Islam.
Das, was früher das Judentum war, ist jetzt der Islam.« Und nur wenige Wochen nach dem 7. Oktober beklatschte Schwan als Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD die von ihr eingeladene Philosophin Susan Neiman, die über den »verordneten Philosemitismus« in Deutschland sprach und behauptete, man dürfe heute nicht mehr Israel kritisieren.