Das jüngste Buch von David Mendelsohn heißt Die Verlorenen Auf Einladung der Literaturhandlung in Zusammenarbeit mit B’nai B’rith München und dem Amerikahaus stellte er es Ende September in München vor. Der Untertitel Eine Suche nach sechs von sechs Millionen verweist nicht nur auf die Thematik des Holocaust – er verrät zugleich etwas von der Herangehensweise des Autors. Die Veranstalterin Rachel Salamander, selbst nach der Schoa geboren, betonte bei ihrer Einführung, dass es dem 1960 in Long Island geborenen Autor gelungen sei, »die Gefühle meiner Generation auszusprechen«.
Recherche Die Geschichte der Schoa erzählt Daniel Mendelsohn aus dem Blickwinkel derjenigen, die die Grauen überlebt haben. Er nähert sich der Thematik in einer Verbindung von Erinnerung und Recherche. Das Buch zeigt, wie die Form des Nachfragens richtig geht, betonte Rachel Salamander. Damit werde eine große Authentizität erzielt und so eine entsprechende Wirkung auf den Leser – und an diesem Abend die Zuhörer: »Daniel Mendelsohn weiß, was er tut. Er hält immer Distanz zum Geschehen und zu sich selbst.
Er kennt die Tücken der Erinnerung bei Zeitzeugen und er weiß, was vor sich geht bei einer Geschichte, die aus Fragmenten besteht.« Wenn Daniel Mendelsohn als kleiner Junge mit älteren Verwandten zusammenkam, hatten diese bei seinem Anblick immer Tränen in den Augen. »Oj, er set ois seier enlech zu Shmiel! – Oh, er sieht Shmiel so ähnlich! Und dann fingen sie an zu weinen und machten leise Ausrufe und wiegten sich vor und zurück, und ihre rosa Pullover und Windjacken schlackerten ihnen lose um die Schultern, und dann setzte ein rechter Schwall Schnellfeuerjiddisch ein, von dem ich dann ausgeschlossen war.« Jener Shmiel war der älteste Bruder von Daniel Mendelsohns Groß vater. Er, seine Frau und seine vier Töchter waren von den Nazis umgebracht worden.
Puzzle Die immer wieder angesprochene Ähnlichkeit mit seinem Großonkel ließ den Autor mit zunehmendem Alter neugieriger werden, doch der Großvater, dem er Fragen stellte, blockte ab. Daniel Mendelsohn ließ nicht locker. So entstand auf der Suche nach diesen sechs Ermordeten aus seiner Familie aus sechs Millionen Toten der Schoa ein Buch von über 650 Seiten. Fotografien, die »in einer Plastiktüte in einer Schachtel in einem Karton im Keller« sorgfältig verwahrt waren und andere Dokumente waren eine Grundlage, dazu kamen in späteren Jahren geführte Interviews. Aus dem Puzzle wurde ein Bild, in dem die Erinnerungen aus Kindertagen das einmalige Kolorit dazufügten. Hier wird der Wille der Überlebenden zum Weiterleben in ihrem Alltag zwischen Freude und Trauer sichtbar.
Der Autor hat die Mosaiksteinchen konsequent gesucht und zusammengetragen. Dafür bewundert ihn Rachel Salamander als Kind Überlebender: »Während wir uns über Jahre hindurch quälen, hat Daniel Mendelsohn gehandelt. Er hat sich bemüht herauszufinden, was dahintersteckt, dass bei dem Anblick des kleinen Lockenköpfchens alle weinend an Onkel Shmiel denken. Er hat Spuren gesucht, Briefe gefunden. Er hat Antworten auf die Fragen gesucht, die zu stellen er als 20-Jähriger noch nicht in der Lage war. Das Resultat ist ein Wortdenkmal eines Nachgeborenen für die Ausgelöschten, aber auch eine Statusbestimmung meiner Generation.«
Weltreise Die Briefe, die Mendelsohn gefunden hatte, führten ihn zunächst in das ukrainische Stetl Bolechow und von dort über den ganzen Globus. Das Buch beschreibt aber weit mehr als recherchierte Fakten, wie sie ein einfühlsamer Historiker hätte zu Papier bringen können. Dem Kind Daniel ist vieles in Erinnerung geblieben, die Geschichten seines Großvaters, die Humor und Trauer verbinden, wie in dem Brief an den wissbegierigen Enkel: »Und was nun die Geburtsdaten der beiden angeht, ich kenne sie nicht, weil ich nicht dabei war, aber wenn einmal der Messiah kommt und alle Verwandten wiedervereint sind, werde ich sie fragen.«
Daniel Mendelsohn gibt die Gerüche wieder, die sich in seine Erinnerung eingebrannt haben, ebenso wie die Kleidung und das Verhalten der Erwachsenen, die er als kleiner Blondschopf mit seiner Ähnlichkeit zu dem verlorenen Onkel immer wieder zum Weinen brachte. Warum spricht Mendelsohn von den »Verlorenen«, nicht zum Beispiel von Verschwundenen? Verloren ist für den Autor unwiederbringlich. Mit Blick auf die Verwandten sagte er: »Wir haben sie verloren.« Gleichzeitig mit diesen sechs Opfern der Schoa ist eine sehr viel größere Geschichte dahinter verloren gegangen. Mit Blick nicht nur auf die weinenden Tanten zitiert der Altphilologe Mendelsohn aus der Antike: »Sunt lacrimae rerum – In allen Dingen sind Tränen« und er ergänzte, »aber wir alle weinen aus unterschiedlichen Gründen.«
Daniel Mendelsohn: Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, 640 S., 24,95 €