Manchmal treten Veränderungen ungeplant ein. So ging es Rabbiner Shlomo Afanasev, der eigentlich, so erzählt er, gar keinen neuen Job gesucht hat. Sieben Jahre lang habe er am Rabbinerseminar zu Berlin als Dozent für Halacha gearbeitet. »Ich wurde von der Jüdischen Gemeinde Hannover kontaktiert. Dann habe ich mir das überlegt«, berichtet Afanasev weiter. Und er hat sich für einen Wechsel entschieden: Seit dem 1. Mai ist Shlomo Afanasev Gemeinderabbiner in der niedersächsischen Landeshauptstadt.
Von seiner neuen Gemeinde zeigt er sich angetan: »Seit ich die Stelle in Hannover vor drei Monaten angetreten habe, sind wir positiv überrascht, wie viel Unterstützung wir vom Vorstand und den Mitarbeitern bekommen.«
FAMILIE Der Gemeindevorsitzende Michael Fürst äußert sich ebenfalls zufrieden: »Wir haben jemanden gesucht, der in die Gemeinde passt. Und wir glauben, dass wir mit Shlomo Afanasev und seiner Familie den Richtigen gefunden haben.« Es gehe nicht nur darum, einen Rabbiner einzustellen, erläutert Fürst. »Mit dem Rabbiner verbunden ist die Rebbetzin und die Frage: Wie und wo erzieht er seine Kinder, wie kommt die Rebbetzin in der Gemeinde klar?«
»Wir sind so orthodox, dass wir jeden nehmen«, sagt Michael Fürst.
Die Jüdische Gemeinde Hannover sei eine Einheitsgemeinde mit einer traditionell-konservativen Ausrichtung. »Das ist der Unterschied zu einer liberalen Gemeinde, die so liberal ist, dass sie nur Liberale nimmt. Wir sind so orthodox, dass wir jeden nehmen«, sagt Fürst. Seine Gemeinde hat sich jahrelang nach einem Rabbiner umgesehen. »Wenn man einen Rabbiner sucht, dann kann man sich ruhig viel Zeit lassen«, betont der Gemeindevorsitzende.
KONZEPT Ein glückliches Händchen für die Suche nach einem passenden Rabbiner könnten derzeit einige Gemeinden gebrauchen. Die Jüdische Kultusgemeinde Groß-Dortmund hat die Rabbinerstelle ebenso ausgeschrieben wie die Jüdische Gemeinde zu Dresden, deren Rabbiner Akiva Weingarten Mitte August aufhört. »Wir suchen jemanden, der an dem Konzept der Einheitsgemeinde festhält – das heißt, alle Strömungen sollen unter dem Dach der Gemeinde stattfinden und zusammenleben können«, sagt Domokos Szabó, Pressesprecher der Dresdner Gemeinde. »Ein liberaler Rabbiner würde am besten zu uns passen.«
»Die Chemie muss einfach stimmen«, meint Domokos Szabó aus Dresden.
Der Ritus in der Synagoge tendiere in Richtung konservativ und orthodox. »Aber es gab immer wieder die Möglichkeit, nach egalitärem Minjan Gottesdienste abzuhalten, wo auch Frauen zur Tora aufgerufen werden«, ergänzt Szabó. Er benennt zugleich weitere Kriterien: »Es wäre von Vorteil, wenn wir einen Rabbiner finden könnten, der auch die Kantorenrolle übernehmen kann.« Wichtig sei zudem, dass der künftige Rabbiner die vielen russischsprachigen Mitglieder mitnimmt. Es gehe nicht nur darum, dass der Bewerber die genannten Kriterien erfüllt, »sondern die Chemie muss einfach stimmen«. Das merke man auch, wenn jemand kommt, vorbetet und die Gemeinde kennenlernt, daran, wie man aufeinander zugeht. »Die Suche war noch nie einfach und ist es auch jetzt nicht«, resümiert der Pressesprecher der Dresdner Gemeinde.
AUSBILDUNG Diese Herausforderung macht auch Daniel Neumann, Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen, zu schaffen: »Für die Einheitsgemeinde ist es unfassbar schwer, geeignete Rabbiner zu finden. Wenn du einen suchst, der auf alle passt, ist das nahezu unmöglich.« Neumann sieht einen Grund dafür auch in einer praxisfernen Rabbinerausbildung: »Es gibt zu wenige – und zu wenige geeignete – Rabbiner, die mit den Lebensrealitäten in den Gemeinden vertraut sind oder sich darauf einstellen können.«
»Es gibt kaum Rabbiner, die für den Mainstream ausgebildet werden – also Gemeinden, die durchaus in der Tradition verfestigt sind und eine hohe Affinität zur Orthodoxie haben, die aber trotzdem keine orthodoxe Lebensrealität haben«, erläutert Neumann, der für seinen Landesverband derzeit mehrere Rabbiner sucht. Die Gemeinden in Hessen erwarteten, so Neumann, einen orthodoxen Rabbiner, »der aber gleichzeitig so flexibel, so modern ist, dass er in der Lage ist, die Erwartungen der Gemeindemitglieder zu erfüllen.« Die Auswahl sei in diesem Spektrum kaum da.
Die Situation in Deutschland sei paradox: »Jüdische Menschen, die eigentlich nicht orthodox sind, erwarten trotzdem einen orthodoxen Rahmen, der ihr Gemeindeleben bestimmt.« Der frühere Gemeindevorsitzende in Darmstadt, Josef Fränkel, habe es einmal treffend beschrieben: »Wir sind eine liberale Gemeinde in einer orthodoxen Hülle.«
RÜCKKEHR Neumann beobachtet eine hohe Wechselquote bei den Rabbinern, die nach seiner Einschätzung aus enttäuschten Erwartungshaltungen auf beiden Seiten resultiert. »Und es gibt eine hohe Quote derer, die aus Deutschland abwandern und ins Ausland gehen«, ergänzt er. Das widerfuhr etwa der Dortmunder Gemeinde, deren Rabbiner Baruch Babaev nach über sieben Jahren im Amt mit seiner Familie nach Israel zurückkehrte.
Shlomo Afanasev ist derweil dabei, sich in seiner neuen Gemeinde einzurichten. Noch lebt er mit seiner Familie in Berlin und pendelt regelmäßig nach Hannover. Er hat sich einiges für seine Arbeit als Gemeinderabbiner vorgenommen: »Man muss das Gemeindeleben unterstützen, vieles ändern und mehr Angebote für junge Familien, Kinder und Jugendliche schaffen.« Die Synagoge sei für junge Menschen überhaupt nicht attraktiv. Es kämen nur die Älteren. »Das wollen wir ändern«, sagt Afanasev. Er weiß zugleich, dass Veränderungen manchmal auch Zeit brauchen: »Das ist ein Langzeitprojekt.«
Er geht mit der Zeit, denn auf seinem Instagram-Account »rabbinershlomoafanasev« kann man nicht nur einen Blick auf den »Whisky and Wisdom Club in Action« werfen, sondern Afanasev, der leidenschaftlicher Marathonläufer ist, stellt mit seiner Frau Ita auch den aktuellen Wochenabschnitt als Video online – auf Deutsch und auf Russisch. Wenn das kein guter Anfang für Neues ist.