Die Bombeneinschläge seien immer näher gekommen, erinnert sich Polina G. (29). »Als es eine große Explosion ganz in der Nähe unseres Hauses gab, entschlossen wir uns zur Flucht.« Das war Ende März 2022. Zusammen mit ihrem damals 30 Jahre alten Ehemann sowie der zwei Monate alten Tochter, dem vierjährigen Sohn und ihrer 73-jährigen Großmutter verließ die junge Ukrainerin ihre Heimat Kiew. Mit dem eigenen Auto reihte sich die Familie in einen von Soldaten begleiteten Konvoi ein, um aus der umkämpften Stadt zu gelangen. Dann war sie auf sich allein gestellt.
Die Fahrt ging durch die Westukraine, Rumänien und Ungarn bis in die Nähe von Budapest. »Viele Ängste waren unsere ständigen Begleiter bei dieser Fahrt in die Ungewissheit«, sagt Polina. »Mein Baby hat sich immer wieder erbrochen, und ich wusste nicht, ob ich es überhaupt weiter werde stillen können.« Eine weitere Belastung bei der Fahrt mit dem alten Auto, das ständig drohte, liegen zu bleiben: der Gesundheitszustand der Großmutter. Hinzu kam die Kälte. »Wir schaffen das nicht, war mein ständiger Gedanke.«
fAMILIE Über jüdische Bekannte bekam die Familie eine Perspektive aufgezeigt: Köln. Am 1. April, eine Woche, nachdem sie Kiew verlassen hatte, erreichte sie die Synagogen-Gemeinde (SGK). »Die Gemeinde hat uns von Anfang an warmherzig aufgenommen«, erinnert sich Polina mit Dankbarkeit an den Tag ihrer Ankunft. Für mehrere Monate konnten sie gemeinsam in einem großen Zimmer eines Hotels wohnen. Gemeindemitglieder unterstützten die Familie nicht nur bei Behördengängen.
Der Sohn wurde bereits im Mai in den Kindergarten der Gemeinde aufgenommen. »Unser Junge sagt von sich, dass er bereits sehr gut Deutsch spricht«, berichtet Polina. Später habe eine Maklerin, Gemeindemitglied in Köln, eine größere Wohnung für eine ukrainische Flüchtlingsfamilie provisionsfrei angeboten, die den Wunsch habe, länger in Deutschland zu bleiben. »Es war für uns schnell klar, dass wir in Deutschland bleiben wollen, und so konnten wir im Juli einziehen.« Strahlend zeigt Polina das Schreiben, das sie erst dieser Tage erhalten hat: »Zustellung einer Aufnahmezusage für jüdische Zuwanderer für die ganze Familie«.
Neben Wohnungen sind auch Kita- und Schulplätze sehr begehrt.
Voll des Lobes weist Polina immer wieder auf die »überwältigende Aufnahme und Hilfsbereitschaft in der Synagogen-Gemeinde« hin. Das bestätigen auch Anastasiia K. (45) und ihr Ehemann Ihor (68): »Wir wussten oftmals überhaupt nicht, wie wir die große Hilfsbereitschaft annehmen können.«
Die beiden Familien sowie auch die anderen ukrainischen Flüchtlinge hätten nicht erwartet, dass sie eine zweite Heimat bekämen. Die Gemeinde habe sie zu Feiertagen und Veranstaltungen eingeladen oder Ausflüge in die Umgebung und die Stadt angeboten. »Durch die Unterstützung haben wir wieder festen Boden unter unseren Füßen, den hatten wir verloren«, betont das Ehepaar. »Wir haben das Lachen wieder gelernt«, ergänzt Polina und lächelt Anastasiia und Ihor K. an.
Katze Erst hier in Köln haben sich die Ukrainer kennengelernt. Beide Familien tauschen sich regelmäßig aus, sind ebenso wie auch andere Geflüchtete mit Angehörigen und Freunden in der Ukraine in Kontakt.
Seit knapp einem Jahr sind Anastasiia und Ihor K., die beiden Mütter sowie der Sohn (14) und die alte Katze in Köln. »Wir fühlen uns hier sehr gut integriert und sind auch mit anderen in der Gemeinde gut vernetzt.« Dennoch komme es ihnen immer wieder so vor, als sei die Zeit seit ihrer Flucht stehen geblieben. »Wir wollten wegen der ständigen Bomben einfach nur raus«, sagt Anastasiia.
Am 22. März kam die Familie in Köln an. »Das war ein wunderschöner Empfang hier«, erinnert sich das Ehepaar mit großer Dankbarkeit. »Wir wurden am Bahnsteig von Gemeindemitgliedern abgeholt, in die Synagoge gebracht und mit einem Mittagessen empfangen.« Dabei wurden bereits erste Kontakte geknüpft, die sich bis heute vertieft haben. Zwischen Jung und Alt gebe es in der Gemeinde einen großen Zusammenhalt.
»Es ist alles sehr herzlich, wir fühlen uns nicht mehr fremd, und die Kölner Gemeinde ist nun auch unsere Gemeinde geworden«, betont Anastasiia, die mit der Familie in drei Zimmern in einem Hotel lebt. Es sei für alle ungeheuer wertvoll zu wissen, wo sie hingehen können und Hilfe bekommen – gerade auch mit Blick auf die fast 90 Jahre alte Mutter Ihors. »Für sie ist es schwer, denn sie erlebt einen zweiten Krieg.«
»Unser Sohn träumt davon, in die Ukraine zurückzukehren«, sagt Anastasiia. Zusammen mit anderen ukrainischen Flüchtlingskindern ist er Schüler an einer Privatschule in Köln. Dort besuchte er zunächst eine Förderklasse. Mittlerweile kann der Junge so gut Deutsch, dass er bereits am regulären Unterricht teilnimmt. Außerdem besucht er den Online-Unterricht einer Schule in der Ukraine, um den dortigen Abschluss zu machen.
berlin Der Fernsehturm füllt das ganze Foto aus. Darunter hängt ein Bild, auf dem ein Stapel Dokumente abfotografiert ist. Zu sehen sind sie in der kleinen Ausstellung in der Berliner Masorti-Grundschule, für die die ukrainischen Mütter fotografieren sollten, was sie mit Berlin verbinden. Das sind zwei Beispiele von Tanja Borodina.
Voller Schwung bringt sie an diesem Mittwochmorgen ihre Tochter in die Schule. Sie fühlt sich hier wohl, sagt sie. Aber sie habe auch Angst – davor, dass sie ihren Mann verlieren könnte und dass der Krieg kein Ende findet. »Unsere Männer werden labil«, meint sie. Die vergangenen zwölf Monate hätten Spuren hinterlassen. »Wir existieren, mehr nicht«, sagt sie.
Vor zwölf Monaten begann der Angriffskrieg gegen die Ukraine. Doch für Tanja hat Putins Krieg gegen ihr Land schon früher angefangen, nämlich 2014 in Donezk. Mit ihrer ganzen Familie lebte sie dort. Als ihr bewusst wurde, dass ihre Heimat nun von Russland übernommen werden würde, floh sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter nach Charkiw. Genau dort harrt nun ihr Mann aus. »Das ist sehr schwer und unerträglich.«
ausreise Aber sie hätte keine »Argumente«, warum der 52-Jährige aus der Ukraine ausreisen dürfte. Sie und ihre Tochter seien gesund. Und ein Kind reicht nicht, damit so eine Ausreise legal ist. Im März vergangenen Jahres stieg sie mit ihrer Tochter in den Zug, der sie nach Warschau brachte. Dort hatte Masorti Zimmer in einem Hotel angemietet, wo sie für ein paar Tage unterkamen. Sie wusste, dass sie nach Berlin wollten. »Wir hatten Glück, denn eine Familie nahm uns auf, später half sie uns, eine Wohnung zu finden.« Ihre Tochter konnte zur Schule gehen und fand rasch Freunde.
Der 7. März ist für sie das Datum ihres Neuanfangs, denn da kamen sie in Deutschland an.
Derzeit leben Mutter und Tochter mit einer anderen Frau, die eine Katze besitzt, in einer Wohngemeinschaft. »Steglitz gefällt mir gut, aber ich hätte gerne ein Apartment für meine Tochter und mich allein.« Sie ist fest entschlossen, das Beste aus ihrer Situation zu machen, und hat rasch Deutschkurse besucht. »Ich lerne gern.« In der Ukraine habe sie in einer jüdischen Schule gearbeitet. Und auch ihre Tochter scheint wissbegierig zu sein, denn sie hat es bereits geschafft, von der Willkommensklasse in eine Regelklasse zu wechseln.
Online nimmt das Mädchen an einer privaten Schule am Englisch-, Mathe- und Ukrainisch-Unterricht teil. »Am wohlsten fühle ich mich mit Kindern«, meint Tanja. Deshalb sei sie glücklich, dass sie an festgelegten Tagen mehrmals die Woche in der Masorti-Kita aushelfen kann. Ihr nächstes Ziel: die Ausbildung zur Erzieherin zu absolvieren. Was ihr hilft, ist die Unterstützung der Mitglieder der Synagoge Oranienburger Straße. Beispielsweise in den Schulferien. Da wurde für die Kinder ein schönes Ferienprogramm aufgestellt. Tanja und ihre Tochter haben viele Freundschaften schließen können – und sie wollen bleiben.
Auch Sonja und ihre Mutter Inha Kniazieva sind an diesem Mittwoch in der Schule. Inha hat sich für ein Foto mit Stolpersteinen für die Ausstellung entschieden. Ein anderes zeigt ihr altes Haus in Odessa. Gleich möchten sie zum Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn aufbrechen, damit Sonja sich dort anmelden kann, denn sie kommt nun in die siebte Klasse und hofft, einen Platz zu bekommen. Denn neben Wohnungen sind auch Schul- und Kitaplätze sehr begehrt. Die Nachfrage ist hoch.
Schulweg Der 7. März ist für sie das Datum des Neuanfangs, denn da erreichten sie Deutschland. Auch sie hatten Glück: Sie kamen erst einmal bei einer Familie unter. Mittlerweile haben sie eine kleine Zweizimmerwohnung in Pankow gefunden. »Die Küche war zwar eingerichtet, aber wir brauchen noch einen Tisch und Stühle«, sagt Inha. 50 Minuten dauert nun der Schulweg für Sonja, weshalb sie morgens um 5 Uhr aufsteht. Um 8 Uhr läutet es zum Unterricht. Nach Odessa oder in die Ukraine möchte Sonja nicht zurück. »Die Menschen hier sind nett«, meint die Zwölfjährige über die Berliner.
Sie hat hier neue Freundinnen gefunden, ist aber auch noch in Kontakt zu ihren alten Freundinnen, eine in Odessa und eine andere, die nun in Hamburg lebt. Am ukrainischen Online-Unterricht nimmt sie nicht mehr teil, sondern möchte lieber ihre Deutschkenntnisse vertiefen. Genauso wie ihre Mutter, die in Odessa als Maklerin gearbeitet hat. Sie ist alleinerziehend. »Manchmal ist es einfacher, keine Familie mehr in der Ukraine zu haben«, sagt Tanja nachdenklich. Nun möchte Inha so schnell wie möglich die Deutsch-Prüfungen bestehen – weiter könne sie noch nicht planen.