Herr Lenhard, seit dem Wintersemester 2024/25 haben Sie an der LMU die Lehrstuhlvertretung für Michael Brenner inne, der in den nächsten Jahren ausschließlich in Washington wirken wird. Dafür sind Sie von der University of California in Berkeley nach München gewechselt. Trotzdem sind Sie hier kein Unbekannter.
Das stimmt. Nachdem ich in Köln Judaistik, Philosophie und Anglo-Amerikanische Geschichte studiert hatte, kam ich nach München, um bei Michael Brenner zu promovieren. Für längere Zeit war ich dann als sein Assistent tätig und ging erst nach der Habilitation nach Berkeley. Als die Vertretungsstelle ausgeschrieben wurde, bewarb ich mich, weil es eine tolle Chance ist, diesen renommierten Lehrstuhl weiterzuführen.
Welche Bereiche standen oder stehen im Zentrum Ihrer Forschung?
Bei meiner Dissertation ging es um die Frage, wie sich Juden im 18. und frühen 19. Jahrhundert, also im Zeitalter des aufkommenden Nationalismus, selbst definiert haben. Das Judentum wurde damals neu aufgefasst als reine »Glaubensgemeinschaft« oder »Konfession«, womit kulturelle oder ethnische Aspekte in den Hintergrund treten mussten. Wie Juden das Judentum in der Geschichte selbst verstanden haben, interessiert mich bis heute. In meiner Habilitationsschrift habe ich mich mit der Kulturgeschichte der Freundschaft im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik befasst. Gerade für säkulare Juden, die das Judentum nicht mehr praktizierten, lag das entscheidende Charakteristikum meist im sozialen Bereich. Nämlich darin, mit anderen Juden zusammen zu sein, in der Familie oder eben in der Freundschaft.
Der Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur ist von Michael Brenner aufgebaut worden und in Deutschland in dieser Form ziemlich einzigartig. Was bedeutet es für Sie, seine Professur zu übernehmen?
Was Michael Brenner in den letzten drei Jahrzehnten in München aufgebaut hat, ist schon beeindruckend. Jüdische Geschichte und Kultur als fester Bestandteil eines Historischen Seminars, institutionalisiert als eigener Lehrstuhl mit zahlreichen Mitarbeitern – das gibt es so kein zweites Mal. Hinzu kommt, dass es ein sehr großer und breit aufgestellter Lehrstuhl ist, dem das Zentrum für Israel-Studien angegliedert ist und der zusammen mit der Professur für mittelalterliche jüdische Geschichte sogar eine eigene Abteilung bildet. Ich freue mich einfach, diese Stelle nun weiterzuführen und natürlich auch meine eigenen Ideen einzubringen.
Welchen Ansatz verfolgen der Lehrstuhl und diese Abteilung?
Unser Ziel ist es, jüdische Geschichte nicht als Sondergeschichte, sondern als Teil der allgemeinen Geschichte zu betrachten. Juden werden in dieser integrierten Geschichtswissenschaft nicht nur als Objekte von Hass und Gewalt dargestellt, sondern eben auch als selbstbewusst handelnde Akteure mit eigenen Interessen und Ideen. Neben der Geschichte des Antisemitismus gibt es auch eine Geschichte von Nachbarschaft, Freundschaft und Austausch. Geografisch liegen sicherlich die Schwerpunkte auf dem deutschen und europäischen Raum sowie auf der Geschichte Israels, aber wir sind nicht darauf beschränkt. Ich biete beispielsweise selbst häufig Seminare zur amerikanischen oder auch karibischen Geschichte an, auch Osteuropa spielt natürlich eine Rolle. Mehrere Gastprofessuren, auch aus den Kulturwissenschaften, bereichern das Angebot zusätzlich. Und unsere Sprachlektorinnen für Hebräisch und Jiddisch leisten ebenfalls hervorragende Arbeit.
Sie kooperieren außerdem seit Langem mit der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern.
Mir persönlich ist die Zusammenarbeit mit der IKG sehr wichtig. Viele unserer öffentlichen Veranstaltungen führen wir gemeinsam mit dem Kulturzentrum der IKG durch, Ellen Presser ist für uns eine sehr verlässliche Partnerin. Auch die jährliche Yerushalmi Lecture, ein Highlight jedes akademischen Jahres mit Gastrednern aus aller Welt, wird seit ihren Anfängen von der IKG direkt unterstützt, ebenso wie die Zeitschrift des Lehrstuhls, die zweimal jährlich erscheint. Das ist eine wissenschaftliche Veröffentlichung, die sich mit ihren Schwerpunktthemen aber auch an eine breitere Öffentlichkeit wendet.
Wie haben Sie die akademische Welt in den USA und in Deutschland seit dem 7. Oktober 2023 wahrgenommen?
Berkeley war eines der Zentren der anti-israelischen Proteste. Ich habe das teilweise schon als sehr bedrohlich empfunden. Die emotionale Aufgeladenheit kann ich auf eine Art verstehen, denn niemanden lassen Kriegsbilder kalt. Gleichzeitig war ich aber überrascht, wie schnell vergessen wurde, was am 7. Oktober passiert ist und dass auch explizit pro-terroristische Stimmen laut wurden. Mir scheint, dass nach dem 7. Oktober auch im Westen bestimmte Tabus gefallen sind. So offen wurde zuvor nur selten die Existenz Israels infrage gestellt. Als ich dann nach München kam, schien mir die Situation mit dem Protestcamp und den Demonstrationen nicht sehr viel anders als in Berkeley zu sein. Die meisten Studierenden haben nichts damit zu tun, es ist eine kleine, radikale Minderheit von Aktivisten. Trotzdem muss man die Methoden der Einschüchterung sehr ernst nehmen.
Wie sollte man Ihrer Ansicht nach darauf reagieren?
Ich denke, die Wissenschaft darf sich davon nicht beirren lassen. Wir werden weiterhin israelische Kollegen einladen, differenziert und wissenschaftlich über Israel forschen und lehren. Für das kommende Sommersemester planen wir eine Ringvorlesung zum Thema »Was ist Zionismus?«. Hier fehlt es fundamental an historischem Wissen.
Mit dem Historiker sprach Luis Gruhler.