Porträt der Woche

Eine Radtour veränderte alles

Daniel Navon mochte Frankfurt nicht, bis er einen Ausflug mit seinem Chef unternahm

von Eugen El  26.12.2023 15:02 Uhr

»Beruflich fühle ich mich in der Wirtschaft sehr wohl«: Daniel Navon (24) aus Frankfurt

Daniel Navon mochte Frankfurt nicht, bis er einen Ausflug mit seinem Chef unternahm

von Eugen El  26.12.2023 15:02 Uhr

Bis heute ist es ein Kulturschock: Wir zogen von einem kleinen Dorf in eine Großstadt. Genauer gesagt: aus Israel in die Diaspora. Es gibt viele Gründe, warum meine Eltern eigentlich nicht wollten, dass ihre Kinder in der Diaspora aufwachsen. Auch ich bin sofort damit konfrontiert worden, die jüdische Identität zu verstecken und nicht laut Hebräisch zu sprechen.

Das war schwierig mit vier kleinen Jungs, sehr lebhaften israelischen Kindern. Nach dem ersten Jahr wurde der Arbeitsvertrag meines Vaters nicht verlängert. Wir sind dann in eine sozial schwächere Gegend in Bochum gezogen. Dort haben wir auch Menschen aus vielen anderen gesellschaftlichen Gruppen kennengelernt, die Antisemitismus offener ausleben. Das sind Erfahrungen, die mich geprägt haben.

Ich selbst wurde 1999 in Jerusalem geboren, also vier Jahre nach dem Mord an Yitzhak Rabin und kurz vor der Zweiten Intifada. Meine Eltern stammen aus der ehemaligen Sowjetunion. Mein Vater ist in Tighina in Moldawien geboren, meine Mutter kommt aus Moskau. Sie sind in den 90er-Jahren, anders als die meisten jüdischen Menschen, die heute in Deutschland leben, nach Israel gegangen. Dort wollten sie sich mit ihren jüdischen Wurzeln verbinden.

Es gab eine Person im Leben meiner Eltern, von der sie sich geistig sehr angezogen gefühlt haben: Daniel Rufeisen. Er hatte den Holocaust überlebt und ist 1998 verstorben – ein Jahr vor meiner Geburt. Er war mit meinen Eltern befreundet. Rufeisen sprach gut Deutsch. Eigentlich kam er aus Polen. Die Nazis hatten ihn nicht als Juden erkannt, daher konnte er bei ihnen als Dolmetscher arbeiten. Rufeisen hat dies genutzt, um Juden zu retten. So hat er Menschen im Ghetto von Mir in Belarus vorgewarnt, wodurch viele Juden fliehen konnten, bevor es liquidiert wurde. Nach ihm wurde ich benannt.

Orthodoxe und Nichtorthodoxe, Misrachim und Aschkenasim

Meine Eltern haben sich so stark in der israelischen Gesellschaft assimiliert, dass wir zu Hause Hebräisch sprachen. Ich hatte wenig Bezug zum Russischen oder Sowjetischen und bin bis zum Alter von neun Jahren in einem kleinen Dorf in Israel sozialisiert worden. Dort lebten orthodoxe und nichtorthodoxe Juden, Misrachim und Aschkenasim miteinander – eine sehr heterogene Gesellschaft.

An der Hebräischen Universität hat mein Vater studiert und wurde in Jerusalem zum Rabbiner ordiniert. Weil es in Israel jedoch ein Überangebot an Rabbinern gibt, nahm er 2007 eine Stelle am Israel-Museum an. Doch dann kam die Weltfinanzkrise, weshalb die Familie die Entscheidung traf, sich woanders nach Jobs umzuschauen. Mein Vater wurde in Deutschland fündig: In Bochum suchte die Jüdische Gemeinde einen Rabbiner, möglichst mit Russischkenntnissen. Er war perfekt für die Stelle geeignet. Also fiel die Entscheidung, mit der Familie nach Deutschland zu kommen.

Ich musste lange über deutsche, deutsch-jüdische und israelische Identität reflektieren.

In der Schulzeit machte ich auch sehr positive, prägende Erfahrungen. So lernte ich die Werte der europäischen Aufklärung und weitere Dinge kennen und schätzen. Mit meinem jüngeren Bruder konnte ich mich schon nach wenigen Monaten auf Deutsch verständigen. Wir hatten viel deutsches Fernsehen geschaut und zudem eine sehr gute Lehrerin. Meine älteren Brüder haben hingegen keinen Deutschunterricht bekommen und mussten die Sprache so erlernen.

Mein Vater ist liberaler Rabbiner. Wir haben zu Hause stets den Schabbat geachtet und koscher gegessen. Er selbst hat promoviert und einen sehr akademischen Zugang zum Judentum. Bald nahm er eine Stelle in Emmendingen in Baden-Württemberg an, wo ich sieben Jahre verbrachte – eine viel kleinere Stadt als Bochum und weniger multikulturell. Dort habe ich mein Abitur gemacht. Mein duales Bachelor-Studium der Betriebswirtschaftslehre habe ich in Hamburg absolviert und dann in einer mittelständischen Wirtschaftsprüfungskanzlei gearbeitet. Ich hatte Mandate in ganz Deutschland, ab und zu auch in Frankfurt am Main.

Mein erster Eindruck von Frankfurt war denkbar schlecht: Ich landete im Bahnhofsviertel und dachte sogleich, dass ich nie wiederkomme. Doch dann, an einem Frühlingstag, machte ich mit meinem Chef nach der Arbeit einen sehr schönen Fahrradausflug durch das Nordend und am Mainufer entlang. Das hat mir die schönen Seiten Frankfurts gezeigt. Es ist eine der wenigen Städte in Europa mit Hochhäusern, wo man auch das Urbane fühlt. Das zieht mich an.

In Hamburg gab es schon eine tolle jüdische Gemeinde. Und auch in Frankfurt ist sie sichtbar und stark. Hier habe ich sehr schnell Anschluss gefunden. Aber auch zur Hamburger Gemeinde habe ich noch immer einen guten Kontakt. In Frankfurt lebe ich seit dem Winter 2022 und bin dort in einer größeren Wirtschaftsprüfungskanzlei tätig. Nach einem Jahr Praxiserfahrungen habe ich dann mein Masterstudium begonnen, arbeite nun Teilzeit und studiere parallel an der Goethe-Universität.

Vorstand des Verbands Jüdischer Studierender Hessen

Mein jüngerer Bruder wohnt nahe Frankfurt und hat ein Kind. Auch meine Eltern leben nicht weit weg von hier, in Freiburg. Schon in Hamburg hatte ich begonnen, mich ein wenig in der Gemeinde zu engagieren. Und hier in Frankfurt bin ich im März in den Vorstand des Verbands Jüdischer Studierender Hessen (VJSH) gewählt worden. Dort kümmere ich mich um alles Organisatorische, also Tagesordnungen erstellen oder Protokolle schreiben.

Wir verstehen uns auch als Interessenvertretung von Jüdinnen und Juden im Alter zwischen 18 und 35 Jahren. Wir möchten, dass sich alle repräsentiert fühlen, unabhängig von sexueller Orientierung, aschkenasisch oder misrachisch, reformjüdisch, liberal oder orthodox. Der VJSH ist zwar unabhängig, wir arbeiten aber eng mit den jüdischen Gemeinden zusammen.

Es gibt aus unserer Sicht eine große strukturelle Lücke, was Angebote für junge Erwachsene angeht. Nach dem Jugendzentrum geht jeder seiner Wege. Das wollen wir ändern und jeden in der Gemeinde vernetzen, damit diese allen ein Zuhause bietet, also auch junge Jüdinnen und Juden. Manchmal könnten wir etwas lauter, frecher und rebellischer sein, ohne dass die jüdische Gemeinde sich Sorgen machen sollte. Wir wünschen uns, dass man uns auch politisch ernst nimmt – davon kann nicht nur die jüdische Gemeinschaft profitieren.

Was mein Judentum angeht, so bin ich weniger praktizierend.

Was mein Judentum angeht, so bin ich weniger praktizierend. Trotzdem beschäftige ich mich damit geistig. Für mich persönlich ist das Judentum eine Ethnoreligion mit diasporischen, nationalen und kulturellen Elementen.

Ich habe einen starken Bezug dazu, fühle mich aber auch religiösen Menschen sehr nahe. Bin ich nun ein Diasporajude? Ich musste lange über deutsche, deutsch-jüdische und israelische Identität reflektieren. Ich befasse mich viel mit jüdischer Geschichte, etwa mit der Umbruchszeit vor 130 Jahren, als Theodor Herzl seine Überlegungen ausformulierte, als Juden aus dem östlichen Europa über die Fragen von Assimilation, Zionismus und anderen Optionen für die Probleme der Diaspora nachdachten.

All das sind Fragen, die wieder aktuell sind, auch für mich. Ich erkenne plötzlich manche Perspektive wieder. Wenn etwa Herzl während der Dreyfus-Affäre davon schreibt, dass es in Frankreich, dem Land der Aufklärung und der Moderne, einen Mob gibt, der gegen Juden hetzt, dann versteht man die Einstellung, dass man sich im Stich gelassen fühlt und zusammenhalten muss.

Humanismus, Transparenz und moralische Integrität

Mir sind Werte wie Humanismus, Transparenz und moralische Integrität sehr wichtig. Manchmal idealisiere ich das bürgerliche deutsche Judentum vor der Schoa. Es ist aber etwas, das mich sehr anzieht.

Ich kenne beispielsweise eine Journalistin, die über deutsche Juden recherchiert hat, die vor der Schoa nach Argentinien geflohen sind und dort weiter ihre deutsch-jüdische Identität pflegen. Das jüdische Selbstverständnis wurde trotz der Emanzipation und Assimilation auch in Frankfurt bewahrt – und das wünsche ich jedem. Bürgerlichkeit, Integrität und Transparenz: Das ist meine Vision für die jüdischen Gemeinden. Es gibt dafür einige gute Beispiele.

Beruflich fühle ich mich in der Wirtschaft sehr wohl. Vielleicht werde ich auch meine akademische Karriere neben dem Beruf in diese Richtung vertiefen. Auch plane ich, zumindest für einige Zeit, wieder nach Israel zu gehen, um mein Hebräisch aufzufrischen. Und ich möchte eine jüdische Familie gründen. Das ist mir sehr wichtig. Ich möchte diese Tradition auf jeden Fall weitergeben.

Aufgezeichnet von Eugen El

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