Berlin

Eine große Familie

Drei Generationen: Gerhard Jarosch mit seinem Sohn Siegfried und den Enkeln Joschua und Alisa Foto: Gregor Zielke

Auf diese Stunden hat er sich schon seit Tagen gefreut. Gerhard Jarosch sitzt andächtig im Gottesdienst der Synagoge Lev Tov. Beim anschließenden Kiddusch ist er die Hauptperson. Denn an diesem Schabbat will die Betergemeinschaft eine neue Tradition begründen, und zwar »die Ehrung der Mütter und Väter, ihres Lebens und ihrer Leistungen«, wie Rabbiner Chaim Rozwaski betont. Als Erster wird nun der 98-jährige Gerhard Jarosch gewürdigt.

»Bitte kommen Sie zahlreich und bringen Sie auch Ihre Eltern und Großeltern mit, denn ihnen soll dieser Tag gewidmet sein«, hieß es in der Einladung. Etwa 65 Beter sind der Aufforderung gefolgt. »Das ist ein wunderschöner Moment für mich«, freut sich Gerhard Jarosch.

Initiative »Wir haben von unseren Eltern und Großeltern so viel geerbt – das wollen wir ehren«, erläutert Rabbiner Rozwaski. Man wolle die besondere Wertschätzung zum Ausdruck bringen. Gemeinmeinsam mit den Betern sei die Idee entstanden, daraus soll eine Tradition werden. »Er wäre schön, wenn viele eine derartige Feier noch miterleben und in die Synagoge kommen können.«

In den vergangenen Monaten seien viele der älteren Mitglieder gestorben, die die Berliner Gemeinde aufgebaut und geprägt haben, sagt Gerhard Jaroschs Sohn Siegfried. Er habe den Eindruck, dass sie allmählich in Vergessenheit geraten seien – und möchte dem mit dieser Initiative entgegenwirken.

Sein Vater beispielsweise sei früher eine Institution in der Gemeinde gewesen, sagt Siegfried Jarosch. In seinen letzten Arbeitsjahren war er Auskunftsassistent. Im Gemeindehaus in der Fasanenstraße arbeitete er als Pförtner, etlichen Mitgliedern und Besuchern habe er den Weg gewiesen. Mit über 70 wurde er »gegen seinen Willen« pensioniert.

Lebensweg Gerhard Jarosch ist in Berlin geboren, wie auch seine sechs weiteren Geschwister. Seine Eltern stammten aus Polen. In der Nazizeit schickten sie ihren ältesten Sohn mit dem Zug nach Israel. Sie hingegen kehrten mit ihren kleineren Kindern zurück in die polnische Heimat.

»Es gab ein Abschiedsessen, Graupensuppe. Da war noch einmal die ganze Familie zusammen. Wenn später diese Suppe bei uns auf den Tisch kam, verlor mein Vater jedes Mal die Fassung – weil sie ihn immer an seine Eltern und Geschwister und das Abschiedsessen erinnerte«, erzählt Tochter Sigrid Wolff. Vor wenigen Tagen erst, nach jahrelanger Suche, hat Jarosch erfahren, was mit ihnen geschah: Alle wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet. Nur seine älteste Schwester hatte überlebt.

Gerhard Jarosch schaffte es jedoch nicht nach Israel und wollte deshalb zurück zu seinen Eltern. Unterwegs wurde er verhaftet und kam nach Sibirien, wo er seine erste Frau kennenlernte. Dort musste er Zwangsarbeit als Holzfäller leisten. Er musste das Lager mit aufbauen, in dem er und viele andere inhaftiert wurden.

Schließlich gelangen er und seine Frau nach Kriegsende über Usbekistan doch nach Israel, wo zwei Kinder auf die Welt kamen. Als er erfuhr, dass seine älteste Schwester überlebt hatte, hielt ihn dort nichts mehr, er reiste mit seiner Frau und den Töchtern nach Berlin. Rasch wurde ihm klar, dass er in seiner Geburtsstadt bleiben wollte, während es seine Frau wieder nach Israel zog.

Gerhard Jarosch lernte seine zweite Frau, Irmgard, kennen und lebte mit den drei Kindern in Kreuzberg. Erst installierte er als Handwerker in der Deutschen Oper die Heizung, war Gastronom, dann wurde er Hausmeister im Jüdischen Kindergarten und schließlich Auskunftsassistent in der Gemeinde. Vor acht Jahren starb Irmgard, seitdem lebt er bei seinem Sohn und dessen Familie. Mit ihnen hat er Anschluß an die Betergemeinschaft »Lev Tov« gefunden.

Programm »Wir möchten uns hier um unsere Mitmenschen kümmern«, beschreibt Siegfried Jarosch den Charakter der 2008 gegründeten klassisch-orthodoxen Gemeinschaft. So hängen in der Synagoge Blätter an den Wänden, mit der Aufforderung, sich im Gemeindebüro zu melden, wenn jemand Hilfe braucht. »Geben Sie uns Bescheid, wenn jemand krank ist, und wo man zu Besuch kommen kann«, fordert Rozwaski auf.

Für etliche Probleme seien die Beter und der Rabbiner Ansprechpartner, beispielsweise bei Amtsterminen, in Trauerzeiten, bei Familien- und Partnerschaftsproblemen oder wenn einfach nur ein Mensch gebraucht wird, der einem zur Seite stehen soll.

Ebenso bietet die Betergemeinschaft den »Schulchan Aruch« an, verteilt jeden Donnerstag von 11 bis 13 Uhr Challot, Fleisch, Obst und Gemüse, Milch und Süßigkeiten an Bedürftige. Die Synagoge finanziert sich ausschließlich über Spenden.

www.lev-tov.org

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