Etwa 150 Menschen versammeln sich am vergangenen Donnerstagmittag vor der großen Mensa der Freien Universität (FU) im gediegenen Berliner Südwesten. »Von Dahlem bis nach Gaza – Yallah Intifada«, brüllten hier schon im November junge Demonstranten und sorgten dafür, dass einige jüdische Studierende die Hauptkantine fortan mieden. Manche verabredeten sich gar per Chat, um den Campus überhaupt zu betreten. Die Sticker, die den Weg vom U-Bahnhof hierher pflastern, lassen einen erahnen, warum.
An jenem Donnerstag vor einer Woche ist erneut eine Kundgebung vor der Mensa angekündigt. Doch zwischen den Menschen mit Palästina-Fahnen, neongelben Westen sowie Hammer-und-Sichel-Pappschildern wuseln so viele Journalisten, dass kaum auszumachen ist, wie viele Demonstranten es nun eigentlich sind. 70, so schätzt später ein Polizist.
Hörsaalbesetzung im Dezember
Für so einen kleinen Protest ist der Medienandrang riesig. Doch die Umstände sind brisant. Es ist der erste öffentliche Auftritt jenes Konglomerats aus linksradikalen, anti-israelischen und studentischen Gruppen, dem vorgeworfen wird, seit Monaten den jüdischen FU-Studenten Lahav Shapira als Feind markiert zu haben. Es sind beinahe die exakt selben Namen, die bereits bei der Hörsaalbesetzung im Dezember involviert waren.
Dort kam es zu Rangeleien zwischen Lahav Shapira und den propalästinensischen Besetzern, die ihm den Zutritt zum Saal verweigerten. Ein Video davon führte zu Hetze gegen den in Israel geborenen Studenten, dem schließlich von einem Kommilitonen vor einer Bar die Nase zertrümmert wurde. Zum Zeitpunkt der Demo liegt Shapira immer noch mit schweren Gesichtsfrakturen im Krankenhaus.
Die Journalisten hören den durchideologisierten Reden zu und warten auf einen Hinweis, einen Halbsatz, der ebenjenen Vorwurf bekräftigen könnte, die Tat relativiert, gar zur erneuten Gewalt gegen Juden aufruft. Kurz irritiert scheinen manche, als zunächst ein Redner mit Kippa die Bühne betritt, der mit amerikanischem Akzent die Kameramänner bittet, zu gehen – und mit ein paar Spritzern aus seiner Wasserflasche nachhilft.
Später spricht auch eine antizionistische Person mit israelischem Akzent, die den FU-Präsidenten Günter Ziegler bezichtigt, »nicht-arische Studierende« zu terrorisieren, und im Gegensatz zu ihm ein echter Antisemit in einem »Nazi-Deutschland 2024« zu sein. Die Konfliktlinien verlaufen an der Freien Universität nicht entlang von ethnischen oder religiösen Zugehörigkeiten. Und manchmal komplett kreuz und quer.
Als die Kameras weg sind, wird die Gewalt gegen Shapira relativiert.
Der hier bezichtigte Uni-Präsident hatte im Vorfeld die Demo-Plakate zur Anzeige gebracht, die in den letzten Tagen an der FU verteilt wurden: Sie hatten eine Karte in den Grenzen des Mandatsgebiets Palästina vor 1948 gezeigt, darüber die Aufforderung, »ganz Palästina« zu befreien. Auch hatte Ziegler angekündigt, die Protestler hinauszuwerfen, sollten sie wieder seinen Campus betreten – die Demonstration auf der öffentlichen Straße davor kann er nicht untersagen.
Als sich nach ein paar Minuten Israel-Fahnen-schwenkend eine spontane Gegendemo bildet, warten die Journalisten auf einen Vorfall: dass sich die Demonstranten nun zu einer Reaktion verleiten lassen, irgendeinem Spruch, ein Handgemenge zwischen den beiden Lagern womöglich, bei dem die Gewalt hervortritt, diesmal auf Kamera festgehalten.
Die Organisatoren der Kundgebung wissen das ganz genau. Und so dauert es beinahe zwei Stunden, bis der erste Redner den Fall Lahav Shapira anspricht. Da haben die meisten Fernsehjournalisten schon frierend ihre Ausrüstung eingepackt und sind abgefahren.
»Wir wissen, dass Lahav Shapira ein Zionist ist«
»Wir wissen nicht, was am Freitag passiert ist, aber wir wissen, dass Lahav Shapira ein Zionist ist«, sagt der Redner. Dann beschreibt er, wie er selbst miterlebt habe, dass Shapira bei der propalästinensischen Hörsaalbesetzung im Dezember gestört und provoziert habe. Da ist sie also, die Relativierung des brutalen Angriffs. Und auch zur Gewalt gegen Juden in Israel ruft er auf. »Intifada bis zum Sieg!«, schreit der junge Mann am Ende.
Nun kommen auch die pro-israelischen Gegendemonstranten näher, die sich bisher weitgehend an die Anweisungen der Polizei hielten, sich in etwa 50 Meter Abstand aufzustellen. »Wenn ich so etwas höre, werde ich echt wütend«, sagt einer. »Wer hat denn wem das Gesicht eingetreten?«, ruft er in Richtung eines inzwischen neuen Redners, der erzählt, er fühle sich als Muslim in Berlin nicht mehr sicher.
Es kommt nun laufend zu verbalen Auseinandersetzungen und Provokationen zwischen den Teilnehmern beider Demos. Ein propalästinensischer Demonstrant ruft in Richtung der Gegendemo: »Wie viele Kinder habt ihr heute getötet?« Ein pro-israelischer Demonstrant stimmt einen Gesang auf Hebräisch an: »Hört zu, ihr Terroristen, euer Dorf wird brennen.« Der Mann mit der Nachman-Kippa ist da noch Mitgründer des Demo-Bündnisses »Jewish Life Berlin«. Zwei Tage später distanziert sich das Bündnis. Auch gegen ihn kündigt die Uni-Leitung später an, Anzeige zu erstatten. An der Freien Universität wurden inzwischen einige Grenzen überschritten, die die Justiz bewerten muss.