Sie kamen als Bauingenieure, Rechtsanwälte und Lehrer. In Deutschland brauchte man dagegen Schlachtergehilfen, Mechaniker und vor allem Aushängeschilder einer neuen deutschen Identität. Zwischen 1990 und 2004 wanderten knapp 220.000 jüdische Migranten aus der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten in das wiedervereinigte Deutschland ein.
Es war eine geförderte Migration, die zu einer Wiederbelebung jüdischen Lebens in Deutschland führen sollte. Rund 30 Jahre später haben 90 Prozent der jüdischen Gemeindemitglieder Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion; fliehen Jüdinnen und Juden wegen des Krieges in der Ukraine nach Deutschland.
Über alte und neue Herausforderungen jüdischer Zuwanderer wurde am vergangenen Mittwoch im Centrum Judaicum in Berlin bei einer Veranstaltung unter dem Titel »Eine besondere Einwanderungsgeschichte« gesprochen.
immigranten Jan Feldmann stammt aus Taschkent in Usbekistan. Als er zehn Jahre alt war, zog seine Familie nach Hannover. »Wir lebten in einem Viertel mit vielen Immigranten. Meine ersten Freunde waren Araber und Russen. Von ihnen habe ich Deutsch gelernt.« Seine Eltern erhofften sich vor allem bessere Bildungschancen für ihre Kinder.
Seinen Migrationshintergrund betrachtet er nicht als den zentralen Teil seiner Identität. Heute beschäftigt sich der 33-Jährige vor allem künstlerisch mit der Vielfalt des Jüdischseins. Anlässlich des kürzlich zu Ende gegangenen Festjahres »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« veröffentlichte er das Videoprojekt »Jewversity – Jewish Diversity«. Den Fotografen beschäftigt außerdem der Ukrainekrieg. In seinem neuen Projekt »24« erzählen 24 Ukrainer, wie sie den 24. Februar, den Tag, an dem die russische Invasion begann, erlebt haben. Das erste Video ist bereits auf seinem Instagram-Kanal zu sehen.
Ukraine Auch Alexander Umanski war einer der sogenannten Kontingentflüchtlinge, die zusammen mit ihrer Familie in Deutschland ein neues Leben beginnen wollten. Er kam aus Charkiw in der damals noch jungen Ukraine. Seit der Auflösung der sowjetischen Föderation hatte der Staat mit Kriminalität und einem maroden Sozialsystem zu kämpfen. 1992 entschieden sich die Umanskis daher, nach Deutschland auszuwandern. »Wir hatten eine große Wohnung, einen Job und Freunde.« Das alles zu verlassen sei schwer gewesen, sagt Umanski. Fünf Jahre dauerte der bürokratische Kampf, bis sie 1997 mit dem Bus die Aufnahmestelle im nordrhein-westfälischen Unna erreichten.
Während die zugewanderten »Russlanddeutschen« schnell die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten, wurde den jüdischen »Kontingentflüchtlingen« nur ein unbefristetes Bleiberecht gewährt. Sie kämpften um die Anerkennung ihrer Bildungs- und Berufsabschlüsse. Viele waren enttäuscht von dem Arbeitsmarkt, der ihr Wissen und ihre Fertigkeiten scheinbar nicht brauchte. Bis heute werden die in der damaligen Sowjetunion geleistete Arbeit und die entsprechenden Rentenansprüche der älteren jüdischen Zugewanderten in Deutschland nicht vollständig anerkannt.
»Meine ersten Freunde waren Araber und Russen. Von ihnen habe ich Deutsch gelernt.«
Jan FEldmann
Aron Schuster, Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), fordert ein Ende dieser Benachteiligung unter Berücksichtigung der Lebensleistung der Menschen sowie der historischen Verantwortung Deutschlands. Die Lebensbedingungen der älteren Zugewanderten ständen konträr zu dem ursprünglichen Anspruch Deutschlands, jüdisches Leben in der Bundesrepublik wiederherzustellen.
»Selbst die, die später am Arbeitsmarkt eine Integration erreicht haben, haben oft kein ausreichendes Versorgungsniveau erzielt, um ohne Grundsicherung im Alter auszukommen«, erklärt Schuster. Die ZWST befürworte den Ansatz einer »Härtefalllösung«, bei der Rentenbeiträge durch einen Fonds ausgeglichen werden. Es brauche jetzt politischen Willen, um diese Ungerechtigkeit zu beseitigen, so Schuster.
Arbeitgeber Auch Alexander Umanski ist davon betroffen: »Ich habe schon 20 Jahre in der Ukraine gearbeitet, bekomme aber keinen Cent von diesem Geld.« In der Ukraine war er Flugzeugmotoreningenieur, seine Frau arbeitete ebenfalls als Ingenieurin. Der erste Arbeitsplatz, den man ihm in Deutschland nach einem dürftigen Sprachkurs anbot: ein Schlachthof. Nach einer Umschulung konnte er als Spannungsmechaniker arbeiten. Heute fährt er Krankentransporte.
Zurück in die Zeit vor seiner Auswanderung wünschte sich Umanski nie: »In der Sowjetunion war bei der Geburt der weitere Lebensweg schon vorgeschrieben. Ich bin deshalb nicht nostalgisch«, sagt der heute 61-Jährige. Die jüdische Religion und Traditionen wurden in der Sowjetunion stark diskriminiert. Die Synagogen waren geschlossen, und »Jude« war vor allem eine Kategorie der Nationalität. Erst in Deutschland kamen viele in Kontakt mit jüdischen Traditionen.
»In der Schule oder von meinen Eltern habe ich nie etwas über die jüdische Kultur gelernt«, erklärt Umanski. Erst in Unna haben seine Frau und er sich in der neu gegründeten jüdischen Gemeinde stärker mit dem Judentum auseinandergesetzt. Früh begannen sie, sich zu engagieren. Unna ist bis heute ihr Zuhause. Hier zogen sie ihre beiden Söhne groß.
Der jüngere der Söhne, Lars Umanski, war vier Monate alt, als die Familie in Deutschland ankam. Er wuchs als Teil der jüdischen Gemeinde auf, lernte Deutsch spielerisch im Kindergarten. Heute studiert der 25-Jährige Jura in Berlin und ist Co-Vorsitzender der Jüdischen Studierendenunion Deutschland.
»In der Schule wurde ich entweder als Ukrainer oder als Jude wahrgenommen, aber nicht als Deutscher«
Alexander Umanski
»In der Schule wurde ich entweder als Ukrainer oder als Jude wahrgenommen, aber nicht als Deutscher«, erinnert er sich. Diskussionen über »jüdische Deutsche« oder »deutsche Juden« hält er für irreführend, wenn dabei der osteuropäische Migrationshintergrund vergessen werde. Seit dem Ukrainekrieg werde dieser Umstand vielen aus der Zweiten Generation wieder bewusst. Mit der Ukraine beschäftigt sich Lars schon seit der Maidan-Revolution. In diesem Jahr wollte er zum ersten Mal zusammen mit seinem Vater in das Land reisen. Dann begann jedoch der Krieg. Seitdem hat die Familie mehreren Freunden und Familienangehörigen bei ihren ersten Schritten in Deutschland geholfen.
ZWST-Direktor Aron Schuster ist beeindruckt von der bisherigen Integrationsleistung jüdischer Zugewanderter. »Umso verwunderlicher ist es, dass der Haushaltsentwurf der Bundesregierung für 2023 eine deutliche Mittelkürzung für die Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte vorsieht.« Die kommende Aufgabe, die neuen ukrainischen Geflüchteten zu integrieren, werde umso schwieriger.