Armut

Eine Frage der Würde

Die Strompreise steigen und steigen. Wer Grundsicherung oder Hartz IV erhält, muss auf jeden Cent achten. Foto: imago images/Westend61

Sie kamen sehr gut ausgebildet und mit großen Hoffnungen in das reiche Deutschland, das sich gerade wiedervereinigt hatte. Doch 30 Jahre danach sind viele Träume geplatzt. Von den jüdischen Kontingentflüchtlingen, die seit Anfang der 90er-Jahre in der Bundesrepublik leben, sind heute 65.000 bis 70.000 im Seniorenalter und von der Grundsicherung abhängig. Ihre Diplome und Abschlüsse wurden oftmals nicht anerkannt. In der neuen freien Heimat bekamen sie keine ihrer Ausbildung entsprechende Anstellung, sofern sie überhaupt eine bekamen. Und wenn sie arbeiten konnten, war ihr Job unterhalb ihrer einst erworbenen Qualifikation.

Jetzt die Pandemie und gigantisch steigende Strompreise: Wer soll sie bezahlen? Günter Jek, Leiter des Berliner Büros der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), twitterte: »Viele ältere Zugewanderte im Grundsicherungsbezug müssen sich im Winter fragen, ob sie am Essen sparen oder an der Heizung.« Sein an Zynismus grenzender Spruch ist Folge seiner Verzweiflung, dass es in 30 Jahren nicht gelungen ist, die Betroffenen menschenwürdig zu unterstützen.

»Egal, wie es nun genannt wird, Grundsicherung oder Bürgergeld, hier muss sehr schnell etwas passieren«, fordert Jek im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Die angesetzten Pauschalen der Regelsätze entsprächen schon lange nicht mehr der Lebenswirklichkeit. Und jetzt kommen auch noch die drastischen Strompreiserhöhungen.

Symptome Ob auf Twitter oder in einem Beitrag des MDR, der das Beispiel des heute 92-jährigen Leonid Berezin nennt, der nach dem Tod seiner Frau mit 426 Euro auskommen muss – es zeigt sich: »Wir doktern seit Jahren an Symptomen herum, und nichts geschieht. Wir brauchen ein sanktionsfreies Existenzminimum, das nicht unterschritten werden darf, um diesen Menschen zu helfen«, fordert Jek. Er prangert an, »dass in Deutschland die EU-Definition der relativen Armut nicht ausreichend anerkannt wird, nach der, wer 60 Prozent unter Einkommensmedian liegt, armutsgefährdet ist«.

Nach EU-Definition ist, wer 60 Prozent unter Einkommensmedian liegt, armutsgefährdet.

Was ihm sehr wichtig ist zu betonen: »Das betrifft natürlich nicht nur jüdische Zuwanderer, das ist kein ausschließlich jüdisches Problem, sondern ein gesamtgesellschaftliches, es betrifft alle Menschen in der Altersarmut.« Nur bei den jüdischen Kontingentflüchtlingen sei die Altersarmut überproportional hoch, weil die Integration in den Arbeitsmarkt aus den bekannten Gründen oft nicht erfolgt ist.

Auch die neue Bundesregierung erkenne diese »relative Armut« nicht an, so Jek. Eine große Sozialreform soll Ende 2022 angegangen werden. »Doch die wird nichts ändern, wenn die Berechnungsgrundlagen nicht an die Lebenswirklichkeit angepasst werden«, sagt Jek.

Finanzierung Das beanstandet auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster. Von der neuen Bundesregierung erwarte er eine Lösung für die Altersabsicherung jüdischer Zuwanderer. Das Problem der Altersarmut in dieser Gruppe sei in der vergangenen Legislaturperiode leider nicht gelöst worden, sagte Schuster. Bereits die alte schwarz-rote Bundesregierung hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag das Thema vorgenommen. Bund und Länder wurden sich bislang aber nicht einig über die Finanzierung.

»Ich hoffe, dass es gelingt, diese Fondslösung in Kürze in die Tat umzusetzen«, erklärte Schuster. »Da baue ich auch auf die neue Bundesregierung.« Falls eine Einigung mit den Ländern nicht zustande komme, solle der Bund die Kosten übernehmen.

Versprechungen »Die in der vergangenen Legislaturperiode erarbeiteten Lösungsvorschläge sollten von der neuen Bundesregierung nun rasch aufgegriffen werden«, forderte auch der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein. »Die Menschen sind in den 90er-Jahren dem Versprechen der damaligen Bundesregierung auf eine bessere Lebensperspektive gefolgt.« Dann sei es aber versäumt worden, eine Regelung für eine »würdige Altersvorsorge« zu treffen.

»Ich hoffe, dass es gelingt, die Fondslösung in Kürze in die Tat umzusetzen.«

Zentralratspräsident Josef Schuster

Gemeindemitglieder, die im Rentenalter sind und ausdrücklich anonym bleiben wollen, berichten am Telefon, dass sie von den steigenden Energiepreisen betroffen sind. Sie beziehen Grundsicherung, davon müssen sie Internet, Strom und Fahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr bestreiten. Die Kosten seien hoch.

Viele ältere Gemeindemitglieder leiden darunter, dass ihre in der Sowjetunion und deren Nachfolgerepubliken geleisteten Arbeitsjahre in Deutschland nicht anerkannt werden, sodass sie auf die Grundsicherung im Alter angewiesen sind. Zwar beziehen einige von ihnen eine Rente aus ihrem postsowjetischen Herkunftsland, doch der ohnehin geringe Betrag wird von der Grundsicherung abgezogen.

Studie Die monatlichen Leistungen für Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger müssten zum Schutz vor Armut nach Berechnungen des Paritätischen Gesamtverbandes um mehr als die Hälfte höher sein. Für einen alleinstehenden Erwachsenen müsste der Regelsatz 678 statt 449 Euro betragen, erklärte der Verband kürzlich in Berlin.

Die jüngste Anpassung um drei Euro gleicht nicht einmal die Preissteigerung aus, kritisierte Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband.

Die jüngste Anpassung um drei Euro zum Jahresbeginn 2022 gleiche nicht einmal die Preissteigerung aus, sondern führe zu Kaufkraftverlust und habe damit die Lage für arme Familien verschlechtert, kritisierte der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Ulrich Schneider. Der Verband wirft der Bundesregierung seit Jahren vor, den Regelsatz kleinzurechnen, und setzt eigene Bedarfsermittlungen dagegen. Die »statistischen Tricksereien« müssten beendet und die Leistungen neu und armutsfest berechnet werden, forderte Schneider.

»Was nutzt uns, wenn Hartz IV dann Bürgergeld heißt und eine große Sozialreform angekündigt wird, aber die Sätze nicht angetastet werden?«, sagt Jek. »Ich kann fördern, ich kann fordern, aber es gibt eine Grenze nach unten. Ich denke, das ist auch eine Frage der Würde, wie man mit Menschen umgeht.« Der Kampf gegen Armut in einem reichen Land sei ein Kampf gegen das Verschweigen der Tatsache, dass es Armut gibt. Das Mantra laute, so Jek: »Es gibt in Deutschland keine Armut, weil unser Grundsicherungs­system vor Armut schützt.«

Im Regelsatz ist eine Pauschale für Strom vorgesehen. Wenn die Strombetreiber aber die Kosten drastisch erhöhen, ist das vom vorgesehenen Betrag nicht mehr gedeckt. Hinzu kommt, dass die Discount-Anbieter ihren Kunden die Kündigung geschickt haben. »Es wird niemandem das Licht abgedreht«, erklärt Jek, »aber die Anbieter bitten kräftig zur Kasse.«

Sparen »In der Sowjetunion haben wir gelernt zu sparen«, sagt Fanya Uhzva aus Köln. Die alleinstehende 77-Jährige stammt aus der Ukraine. »Der Geldbetrag, den wir als Grundsicherung im Alter erhalten, führt dazu, dass wir sparen müssen«, ergänzt sie. »Dass die Preise für Strom, Heizung und Nahverkehr derzeit wachsen und wir uns wegen der Pandemielage nicht frei bewegen können, um etwa andere, günstigere Läden zu erreichen, führt ebenfalls dazu, dass wir sparen.«

Um weniger Strom zu verbrauchen, habe sie sich einen Induktionsherd angeschafft. Aber selbst die Kommunikation sei gefährdet, denn »gleichzeitig muss auch das Internet gezahlt werden«. Wenn dann auch noch das Wohnhaus nicht gut wärmeisoliert ist, werden die Heizkosten immer höher. »Unser Haus ist nicht gut in Sachen Energieeinsparung. Wir haben einfach verglaste Fenster. Damit es nicht kalt ist, muss man stark heizen«, erzählt sie. Auch wenn das Sozialamt teilweise die Heizkosten übernimmt, bleibt Sparen das oberste Gebot. (mit epd)


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