Eigentlich möchte bei so gutem Wetter niemand an den Tod denken. Es ist einer der ersten richtig schönen Frühlingstage nach einem typischen Berliner Winter. Aber nun ist die Luft wieder klar, und die Natur strotzt nur so vor Kraft. Auf dem Jüdischen Friedhof Heerstraße in Charlottenburg herrscht geschäftiges Treiben. Die Gärtner reinigen Wege und Gräber, pflanzen im Akkord und bereiten alles für die neue Jahreszeit vor.
Vorbereitet sein will auch Manfred Friedländer. Und zwar auf die Zeit danach. Für ihn, Jahrgang 1934 und in Berlin geboren, ist es ein Herzensanliegen, zu wissen, dass im Falle seines Ablebens alles geregelt sein wird. »Ich möchte meine Kinder und Enkel wirklich nicht mit der Organisation von Grabsuche und Beerdigung belasten«, erklärt der langjährige Beter und Gabbai der Synagoge Pestalozzistraße ganz pragmatisch, während er über den Friedhof geht. »Genau deshalb kümmere ich mich bereits heute um alles Wichtige.« Für ihn ist das eine ganz bewusste Entscheidung.
Doch im Alleingang sind die Beschäftigung mit dem eigenen Tod und die Suche nach dem richtigen Platz für die Ewigkeit keine einfache Sache – sowohl was die administrativen Angelegenheiten angeht als auch für ihn ganz persönlich. Genau deshalb steht ihm Boris Ronis zur Seite. So auch bei seinem Besuch auf dem Jüdischen Friedhof Heerstraße.
Lebensgeschichten Der 41-jährige Familienvater ist seit Dezember Gemeinderabbiner für die Synagoge Rykestraße. Kennengelernt haben beide sich vor einigen Jahren im Jeanette-Wolff-Seniorenzentrum, wo Boris Ronis die Gottesdienste in genau dem Gebetsraum leitete, der wiederum auf die Initiative von Manfred Friedländer ins Leben gerufen worden war.
»Für mich war es immer etwas ganz Besonderes, mit den Menschen dort zusammenzuarbeiten«, sagt Rabbiner Ronis. »Viele von ihnen gehören zu den Gründern der Jüdischen Gemeinde zu Berlin in der Nachkriegszeit.« Ihre Lebensgeschichten faszinierten ihn von Anfang an. »Und die meisten liegen hier auf dem Jüdischen Friedhof Heerstraße begraben.« Angefangen von Heinz Galinski bis hin zu Alexander Brenner – sie alle haben hier ihre letzte Ruhestätte gefunden. So wie Jeanette Wolff, die Namensgeberin des jüdischen Elternheims in der Dernburgstraße und langjährige stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland.
»Eine wunderbare Frau voller Verve und Chuzpe«, erinnert sich Manfred Friedländer. »Ohne ihr Engagement wäre die Gemeinde in Berlin sicherlich nie das geworden, was sie heute ist«, erzählt er, während er gemeinsam mit Rabbiner Boris Ronis zielsicher auf den Teil des Friedhofs zusteuert, wo sein Vater Erich Friedländer seit 1968 begraben liegt.
eltern »Er hat mir immer gesagt, dass jede Generation sich ihren eigenen Weg suchen muss und für sich selbst verantwortlich ist. Aber wohl erst im Alter begreift man, was das wirklich bedeutet.« Auch seine Mutter wurde hier beerdigt. »Aber in einem anderen Abschnitt. Schließlich waren meine Eltern geschieden.«
Allein deshalb ist es für ihn selbstverständlich, ebenfalls einen Grabplatz auf dem Jüdischen Friedhof Heerstraße zu haben. Dabei ist der Name Friedländer dort alles andere als eine Seltenheit, wie man den Grabsteinen entnehmen kann. »Aber mit niemandem davon sind wir verwandt.«
Für den Berliner Juden und Schoa-Überlebenden Manfred Friedländer und den nur halb so alten Boris Ronis, der noch in der Sowjetunion geboren wurde und als Kind nach Deutschland kam, ist die ganze Angelegenheit – so merkwürdig es klingen mag – eine Art Win-win-Situation.
sicherheit »Er ist mein Rabbiner und kennt meine Lebensgeschichte am besten«, sagt Friedländer. Die Tatsache, dass er bei der Grabfindung und Organisation hilft, verleiht ihm bei seiner Beschäftigung mit dem eigenen Tod viel Sicherheit. »Bei ihm fühle ich mich einfach in guten Händen.«
Für Boris Ronis ist die Unterstützung für Manfred Friedländer ebenfalls ein sehr persönliches Anliegen. Aus vielerlei Gründen. »Zum einen habe ich eine Menge von Manfred Friedländer gelernt, worauf es in der Gemeindearbeit ankommt und was wirklich zählt«, betont er. »Zum anderen sammle ich dabei wertvolle Erfahrungen, wie ich als Rabbiner andere in ähnlicher Situation in Zukunft begleiten und unterstützen kann.« Doch nicht nur das. Ihm sei »der Zugang zu Menschen, die zu einer anderen Zeit geboren wurden und nicht selten mit Ereignissen konfrontiert waren, die wir als Jüngere uns kaum vorstellen können, enorm wichtig«.
Um die jüdische Gemeinde in Berlin in ihrer Gesamtheit besser verstehen zu können, reiche es eben nicht aus, nur ihre Geschichte, sondern »vor allem die Menschen zu kennen, die sie gestaltet und mit Leben ausgefüllt haben«, sagt Ronis. Dazu gehören für ihn die älteren Gemeindemitglieder und ihre ganz spezifischen Probleme selbstverständlich dazu.
würde Manfred Friedländer liegt dieser Austausch zwischen Juden unterschiedlicher Herkunft ebenfalls sehr am Herzen. »Mit einem Rabbiner in seinem Alter in engen Kontakt zu kommen und darüber hinaus auch noch ein wirklich enges Vertrauensverhältnis aufzubauen, das Glück hat man nicht jeden Tag«, sagt Friedländer und beseitigt noch schnell einige Spuren des vergangenen Winters vom Grab seiner Mutter, bevor es wieder zurück Richtung Ausgang geht.
Ganz offensichtlich tut ihm der gemeinsame Gang über den Friedhof Heerstraße bei dem Frühlingswetter gut und verleiht ihm Kraft. »Jeder muss sich die Stelle selbst aussuchen dürfen, wo er beerdigt werden will«, betont Manfred Friedländer noch einmal. Ein »Ableben in Würde« sollte es sein, das man selbst in die Hand nimmt und gestaltet. »Und zwar besser rechtzeitig als zu spät.«