Früher sah unser Leben anders aus. Mein Mann Jossi und ich waren viel unterwegs, sind zu verschiedenen Messen gefahren, haben Händler aus England, Frankreich und Amerika empfangen. Wir sind auch selbst ins Ausland gereist und haben dort viele Flohmärkte abgeklappert. All das ist mittlerweile zu anstrengend für uns geworden. Wir werden nicht jünger. Dazu kommt, dass die Blütezeit für Antiquitäten vorbei ist.
Seit etwa 40 Jahren verkaufen wir schöne alte Dinge. Unser Laden ist hübsch, hat Atmosphäre, ist außen mit Efeu bewachsen und liegt im Gärtnerplatzviertel mitten in München. In die Branche sind wir zwar zufällig geraten, aber für Kunstvolles hatten Jossi und ich schon immer etwas übrig. Mein Mann ist handwerklich sehr begabt, das meiste kann er selbst reparieren. Als sich eines Tages sein letzter Arbeitgeber, für den er als Retrofotograf tätig gewesen war, stark verschuldet aus dem Staub gemacht hatte, fand man in den Garagen der Firma viele alte, wunderbare Dinge. So hat unser Handel mit Antiquitäten begonnen.
Diebstahl Mit der Zeit vergrößerte sich unser Fundus. Besonders in Schmuck haben wir investiert. Eines Tages hat man uns dann auf einer großen Messe bestohlen – über Nacht war fast alles weg! Das war eine schlimme Geschichte für uns. Wir haben sehr viel Geld verloren, und so ganz haben wir uns davon nie wieder erholt. Der Zuspruch von Freunden hat uns damals aber wieder Mut gemacht. Wir leben, haben wir uns gesagt, und das ist das Wichtigste.
Vor einiger Zeit begannen wir, uns auf Beleuchtungskörper zu spezialisieren. Mit seinem Geschick kann Jossi fast alle wieder zum Leuchten bringen. Besonders mit Jugendstil- und Gründerzeitlampen hatten wir Erfolg, haben Häuser von bekannten Menschen eingerichtet, die feudale Villa einer Psychotherapeutin, deren Vater Konsul war, zum Beispiel. Das machte uns stolz.
Wir waren also wirklich beschäftigt mit unseren Antiquitäten, was uns jedoch etwas von der jüdischen Gemeinde entfernt hat. Wir hatten einfach keine Zeit, Veranstaltungen zu besuchen. Sogar zu den Feiertagen waren wir oft auf Messen. Deshalb hat die Gemeinde auch kaum etwas von uns gewusst. Zu jüdischen Begegnungen kam es nur über unsere Verwandtschaft, bei Geburtstagen oder anderen Einladungen.
frauentreff Heute ist das anders. Die Gemeinde hat jetzt ihren fantastischen Bau am Jakobsplatz, den wir Charlotte Knobloch zu verdanken haben und über den wir sehr glücklich sind. Er ist in gewissem Sinne zu unserem traditionellen Zuhause geworden, das mit zunehmendem Alter immer wichtiger für uns wird. Wir haben zudem das Glück, dass wir es gar nicht weit haben. Ein paar Schritte, und wir haben das jüdische Gemeindezentrum im Blick. Die Aktivitäten dort sprechen uns wirklich an. Sonntags zum Beispiel versuche ich immer, beim Frauentreff zu sein. Ich habe da auch schon selbst etwas angeboten, habe über die Autorin Lea Fleischmann gesprochen und eine Lesung über Israel organisiert.
Nach Israel bin ich als Mädchen gekommen. Da hatte ich schon einen langen Weg hinter mir. Geboren wurde ich 1938 in Krakau. Mein Vater war, als ich noch sehr klein war, an die Gestapo verraten worden. Meine Mutter, meine Tante, mein Cousin und ich kamen nach Sibirien, später wurden wir nach Kasachstan umgesiedelt. So haben wir den Krieg überlebt. Nach dem Krieg landete ich, bis meine Mutter nachkommen sollte, mit einem Bekannten vorausgeschickt, in einem Krakauer Waisenhaus. Sie hat mir so gefehlt!
Irgendwann kamen wir dann alle endlich wieder zusammen. Israel sollte es sein – das jedenfalls dachten wir. Wieder blieb meine Mutter zurück. Sie war mittlerweile sehr krank. Es folgte ein Jahr Hotelleben in Prag, danach eines in Paris. Und dann endlich Israel. Ich musste immer sehr tapfer sein und durfte meine Mutter nicht wissen lassen, wie sehr ich sie vermisste. In einem Dorf zwischen Tel Aviv und Netanya wuchs ich bei einer Bauernfamilie auf. Später lebte ich in einem Kibbuz, begann mit dem Studium, kam zum Militär. Bei einer Übung in der Negev-Wüste übten nicht weit von uns 6000 Reservisten. Einer davon war Jossi. Nach zwei Jahren haben wir geheiratet.
kultur Nach dem Militär kam Jossi beruflich nicht weiter, eine Rezession hatte das Land fest im Griff. Mein Cousin, ein Arzt in der Schweiz, riet uns, auch dort zu leben. Es sollte Deutschland, es sollte München werden. Wir empfinden die Stadt als sehr angenehm. Hier gibt es viel Natur und überall interessante Kulturveranstaltungen. Was uns bisher ein wenig fehlte, war die Freiheit, dies alles auch zu nutzen. Deshalb haben wir beschlossen, jetzt langsam mit dem Laden Schluss zu machen. Wir sind dabei, ihn aufzulösen, was nicht so einfach ist.
Aber eines ist sicher: Solange wir hier stehen, kümmern wir uns um unsere Kundschaft. Schon früh am Morgen sitzen Jossi und ich zusammen und bereden uns. Ein richtiges Frühstück gibt es bei uns nicht. Eine Tasse Kaffee zur Zeitung, das genügt uns. Danach geht jeder seiner Wege. Jossi macht die nötigen Erledigungen, geht einkaufen und ist mit dem Fahrrad unterwegs, weil das gut für seine Gesundheit ist. Schlag zehn Uhr wird der Laden aufgeschlossen. Wenn sich dort wichtige Leute angekündigt haben, bin ich auch unten, ansonsten kümmere ich mich noch um die Wohnung. Ich telefoniere, erledige die Korrespondenz. Mir ist es sehr wichtig, mit den Menschen, die mir etwas bedeuten, Kontakt zu halten.
Gymnastik Zwischen 13 und 15 Uhr machen wir Mittagspause. Es gibt eine kalte Mahlzeit, dann legt sich Jossi ein bisschen hin. Jetzt bin ich diejenige, die außer Haus geht, um Besorgungen zu machen. Später spazieren wir zwei gern an der Isar. Wir sind noch gut zu Fuß, und dank meiner regelmäßigen Gymnastikstunden am Montag bekomme ich auch Dinge wie Rückenschmerzen immer recht gut in den Griff.
Unser Laden ist eine Begegnungsstätte, in der sich schon – man kann fast sagen – magische Momente abgespielt haben. Man kommt ins Gespräch, Jossi macht einen Mokka, manche Kunden reden nur, manche kaufen auch etwas, aber alle lassen ein Stück ihrer Biografie hier, und die meisten verabschieden sich mit einer Umarmung.
Ich könnte ein Buch füllen mit Geschichten, die sich hier rund um unsere Kunden zugetragen haben. Unser Laden hat auch schon als Filmkulisse gedient. Szenen für einen Krimi mit dem Tatort-Kommissar Miroslav Nemec wurden hier gedreht. Da ging es recht turbulent zu, danach kehrte aber wieder Ruhe ein. In der Nachbarschaft eröffnen jetzt viele Werbefirmen mit jungen Leuten. Wir kommen gut miteinander aus, und wenn es bei denen etwas zu feiern gibt, dann laden sie uns oft ein, mitzufeiern.
aktiv Ich vermittle gerne zwischen Menschen, bin Mitglied der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der »Initiative 27. Januar«, die sich für ein würdevolles Gedenken an die Schoa-Opfer und ein gutes deutsch-israelisches Verhältnis einsetzt. Außerdem pflege ich die Freundschaft mit Menschen der »Katholischen Integrierten Gemeinde«, der es wichtig ist, die Zusammengehörigkeit von Christen und Juden zu leben. Ich bin jemand, der nach vorn sieht, nicht die Opferrolle zelebriert. Wenn ich aber merke, dass meinem Gegenüber Erinnerungsarbeit wichtig ist, dann wehre ich das nicht ab – eine ausgestreckte Hand sollte man ergreifen.
Den Abend verbringen Jossi und ich ruhig. Es gibt abends immer warmes Essen, jeden Tag. Und am nächsten Tag gehen wir wieder in unseren Laden, in dem sich Zufälle ereignen, die irgendwo zwischen Himmel und Erde entstanden sein müssen.