Rahel Hirsch

Eine außergewöhnliche Wissenschaftlerin

Skulptur vor der Charité Foto: Rolf Walter

Rahel Hirsch

Eine außergewöhnliche Wissenschaftlerin

Sie war die erste Medizinprofessorin Preußens. Heute ist ihr Wirken fast vergessen

von Christine Schmitt  24.12.2020 11:22 Uhr

Dem Namen Rahel Hirsch begegnet man in Berlin an vielen Stellen: So ist eine Straße am Hauptbahnhof nach der Medizinerin benannt, 2013 das Oberstufenzentrum Gesundheit/Medizin in Hellersdorf, und vor vier Jahren wurde an Hirschs ehemaliger Wohnadresse Kurfürstendamm 220 eine Gedenktafel angebracht.

Zudem veröffentlichte 2013 die Deutsche Post eine Gedenkbriefmarke zum Anlass »100 Jahre Professorentitel Rahel Hirsch« im Wert von 145 Cent. Ebenso gibt es auf dem Charité-Gelände Straßen, die an sie erinnern, sowie eine Bronzeplastik. Und seit etwa sieben Monaten hängt ein Porträt der Ärztin im Friedrich-Althoff-Saal der Charité. Darauf macht sie einen nachdenklichen und energischen Eindruck.

Pionierin Neben Rahel Hirsch hängen nur Porträts von Männern. Aus gutem Grund zählt sie zu den Pionierinnen der Medizin in Deutschland. Jüngst trafen sich etwa 100 Interessierte vor der Rahel-Hirsch-Bronzeplastik auf dem Charité-Gelände und erinnerten sich an diese außergewöhnliche Wissenschaftlerin. Vor 150 Jahren wurde sie in Frankfurt am Main geboren, als sechstes von elf Kindern.

Ihr Vater war Rabbiner und Direktor der Höheren Töchterschule der Israelitischen Religionsgemeinschaft. Nach dem Abitur 1885 begann sie in Wiesbaden ein Studium der Pädagogik, um dann elf Jahre lang Kinder zu unterrichten. Um dem für sie unbefriedigenden Lehrerberuf zu entkommen, schrieb sie sich, weil das einer Frau in Deutschland nicht möglich war, in Zürich für ein Medizinstudium ein.

Kurz darauf wechselte sie nach Leipzig und Straßburg, das von 1871 bis 1918 zu Elsaß-Lothringen gehörte, wo sie im Juli 1903 ihr Staatsexamen ablegte und ihre Approbation erhielt. Nach ihrer Promotion 1903/04 wurde sie Assistentin bei Friedrich Kraus (1858–1936) an der Charité. Sie war die zweite Ärztin überhaupt in der Geschichte der Klinik, sagt Eva Bringschulte, Verfasserin einer Hirsch-Biografie.

Lehrstuhl Die Medizinerin widmete sich der Forschung. Ihr Interesse galt der Inneren Medizin, vor allem der Darmschleimhaut. 1908 übernahm sie die Leitung der Poliklinik. In Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Leistungen erhielt sie 1913 als erste Ärztin in Preußen den Professorentitel. Allerdings war kein Lehrstuhl mit dem Titel verbunden.

Doch 1918, nach der Rückkehr des jüngeren Theodor Brugsch aus dem Ersten Weltkrieg, wurde ihr die Leitung der Poliklinik entzogen. Dieser Umgang mit ihr durch die Klinik – auch in finanzieller Hinsicht, denn man zahlte ihr kein Gehalt – war für Rahel Hirsch der Grund, 1919 die Charité hinter sich zu lassen und sich auf ihre nun vom Schöneberger Ufer 31 in die Königin-Augusta-Straße 22 umgezogene Praxis zu konzentrieren. 1928 eröffnete sie am Kurfürstendamm 220 eine internistische Praxis mit Röntgeninstitut.

Flucht Von 1906 bis 1919 wohnte die erste Medizinprofessorin Deutschlands am Schöneberger Ufer 57, dem heutigen Sitz des Vereins Berliner Künstler.

In der Nazizeit wurde ihr die Kassenzulassung entzogen, doch sie kümmerte sich weiterhin um ihre Patienten. Kurz vor der Pogromnacht erfuhr sie, dass sie verhaftet werden sollte. Ihr gelang die Flucht nach England, wo die damals 68-Jährige das medizinische Examen erneut hätte ablegen müssen, um als Ärztin arbeiten zu können. Zwei ihrer Schwestern lebten ebenfalls in England. Mit der Arbeit als Laborassistentin und als Übersetzerin konnte sie ihren Lebensunterhalt finanzieren. Von Depressionen und Verfolgungsängsten geplagt, verbrachte sie ihre letzten Jahre in einer Nervenheilanstalt, wo sie mit 83 Jahren starb.

»Es verging viel Zeit, bis auch im öffentlichen Raum ein sichtbares Gedenken an die erste Medizinprofessorin Preußens einsetzte«, sagt Benjamin Kuntz vom Robert-Koch-Institut. Israel ehrte Hirsch übrigens mit der Aufnahme in die Galerie berühmter jüdischer Wissenschaftler.

Die Charité besann sich erst spät des Wirkens ihrer medizinischen Pionierin. 1995 wurde die Bronzeplastik vor dem alten Hörsaal der Inneren Medizin der Klinik aufgestellt, und mit dem 1999 ins Leben gerufenen Stipendienprogramm, das ihren Namen trägt, werden Nachwuchswissenschaftler gefördert.

Begegnung

Raum für das Unvergessene

Jede Woche treffen sich Schoa-Überlebende im Münchner »Café Zelig«, um Gemeinschaft zu finden im Schatten der Geschichte. Ein Ortsbesuch

von Katrin Diehl  21.04.2025

Interview

»Das Gedenken für Jugendliche greifbar machen«

Kurator Pascal Johanssen zur neuen Ausstellung im ehemaligen Jüdischen Waisenhaus in Pankow

von Gerhard Haase-Hindenberg  21.04.2025

Porträt der Woche

Austausch mit Gleichen

Maria Schubert ist Gemeindesekretärin in Magdeburg und tanzt gern

von Alicia Rust  18.04.2025

Feiertage

Hymne auf die Freiheit

Der Alexander-Moksel-Kindergarten führte im Gemeindezentrum ein Pessach-Musical auf

von Vivian Rosen  17.04.2025

Berlin

Mazze als Mizwa

Das Projekt »Mitzvah Day« unterstützt die Berliner Tafel mit einer Lebensmittel-Spende

von Katrin Richter  17.04.2025

Berlin

Berlin: Gericht bestätigt fristlose Kündigung von Rabbiner

Das Berliner Arbeitsgericht hat die fristlose Kündigung eines Rabbiners wegen sexueller Belästigung eines weiblichen Gemeindemitglieds bestätigt

 16.04.2025

Jewrovision

»Schmetterlinge im Bauch«

Nur stilles Wasser trinken, noch einmal gut essen, dann geht es auf die Bühne. Die Moderatoren Masha und Gregor verraten, wie sie sich vorbereiten und mit dem Lampenfieber umgehen

von Christine Schmitt  16.04.2025

München

Hand in Hand

Ein generationsübergreifendes Social-Media-Projekt erinnert an das Schicksal von Schoa-Überlebenden – Bayern-Torwart Daniel Peretz und Charlotte Knobloch beteiligen sich

von Luis Gruhler  15.04.2025

Literatur

Die Zukunft Israels hat längst begonnen

Der Schriftsteller Assaf Gavron stellte im Jüdischen Gemeindezentrum seinen aktuellen Erzählband vor

von Nora Niemann  14.04.2025