Herr Mader, Sie haben in der vergangenen Woche Fragmente einer Tora, die lange bei Ihnen waren, an die Stadt Görlitz gegeben. Wie geht es Ihnen damit?
Ausgesprochen gut. Ich bin sehr zufrieden.
Wie kam es zu diesem Entschluss?
Vom Menschlichen her gesprochen: Die Bäume wachsen altersmäßig nicht in den Himmel. Diese Teile waren mir einst als privates Erbe übergeben worden, das ich zu beschützen hatte. Bis zum 23. März 1969 habe ich nichts davon gewusst. Ich wurde damals plötzlich in ein Erbe eingesetzt, das auch Menschen zu schützen hatte, die ihrerseits eine Diktatur erlebt hatten, zu diesem Zeitpunkt eine weitere erlebten und große Sorgen hatten. Es war nun an der Zeit, deutlich zu machen, dass ich inzwischen die entsprechenden vertrauenswürdigen Institutionen und Personen gefunden hatte.
Hatten Sie damals versucht, Kontakt zu einer jüdischen Gemeinde aufzunehmen?
Nein. In Görlitz gab es keine Gemeinde, und derjenige, mit dem ich gelegentlich sehr vertraut gesprochen habe, Helmut Aris aus Dresden, ist verstorben. Damit brachen alle Kontakte ab.
Warum war jetzt nicht Ihr erster Impuls, zu einer Gemeinde oder einem Landesverband zu gehen?
Ich habe seit einigen Jahren überlegt, geprüft, beobachtet und fand, dass die Stadt Görlitz als Eigentümerin der Synagoge meine Ansprechpartnerin sei. Sie ist jetzt Herrin des Geschehens.
Was wird nun mit den Stücken der Tora passieren?
Aus meiner Kenntnis von Judaistik und dem Alten Testament würde ich annehmen, dass die Teile in eine Genisa kommen und damit weder als akademischer noch religiöser Gegenstand zur Verfügung stehen.
Die Öffentlichkeit würde sie nicht sehen.
Sie sollte sie auf jeden Fall sehen und damit leben, denn diese Fragmente sind eine Art Mahnmal. Ein Mahnmal, an dessen kleinen Dimensionen Menschen erkennen können, welch entsetzliche Dinge geschehen sind. Ein Jude würde niemals die Tora zerschneiden oder verbrennen. Das, was in den herausgeschnittenen Teilen steht, ist signifikant für die jüdische Gemeinde, für jede demokratische Gesellschaftsgründung. Und das ist ein wesentlicher Grund, weshalb die Öffentlichkeit das sehen sollte. Möglichst in einer repräsentativen Ausstellung.
Warum haben Sie sich gerade diesen Zeitpunkt ausgesucht?
Ich muss gestehen, dass ich weder das nun zu Ende gehende 950. Jubiläum der Stadt Görlitz noch das Festjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« im Blick hatte. Die Veröffentlichung ist zum richtigen Augenblick gekommen, weil sich wieder Kräfte rühren, die weder ich noch meine Familie noch meine Vorfahren gerne gesehen haben.
Wie erinnern Sie sich an den Moment, als Sie die Fragmente erhalten haben?
Bis zum 23. März 1969 habe ich absolut nichts gewusst. An jenem Sonntag wurde ich durch die damalige Pfarrerswitwe zum Gespräch gebeten. Wenn ein junger Vikar, ein Anfänger im Dienst, zu einem solchen Gespräch gebeten wird, dann ist das fast ein herrschaftlicher Akt. Ich erfuhr, dass ich als Vikar vom Bischof und von dem Rechtsanwalt und Notar überprüft worden war, der in unserer Provinzialsynode Präses war. An ihn hatte sich, wie ich erfuhr, mein Vater mit den geretteten Teilen gewandt. Dieser Rechtsanwalt und Notar, der übrigens nur 100 Meter von der Synagoge entfernt wohnte, erkannte, es müssen Torateile sein. Er hat meinem Vater geraten, diese Teile einer Person seines Vertrauens zu übergeben. So kam es, dass mein Vater diese geretteten Teile seiner damaligen Freundin gab. Sie und ihr Bruder haben sie versteckt und sind in ihrer Not 1938 zum damaligen Pfarr-Vikar gegangen. Er hat sie ebenfalls versteckt und mit niemandem darüber gesprochen. Es war ein Kreis des Schweigens. Um sie vor Missbrauch oder habgierigen Menschen zu schützen.
Wie haben Sie dieses Fragment aufbewahrt?
Man hüllt es ein und fragt sich: Wo versteckt man einen Baum? Im Wald. Im Wald der Bibliothek meines Vorgängers. Und dann war es im Wald meines Bibliotheksbestandes. Nach der Wende bekam ich von der Polizei einen verschließbaren Stahlblechschrank geschenkt. Darin lagen die Fragmente. Den Schlüssel hatte ich immer am Schlüsselbund. Da kam niemand heran.
Hatten Sie zu DDR-Zeiten trotzdem einmal daran gedacht, das Fragment nicht doch an die kleine jüdische Gemeinschaft zu geben?
In diese Richtung habe ich nie gedacht, gebe ich zu. Was ich in der DDR erlebt habe,
besonders in den letzten Jahren in Berlin, wenn ich in der Zionskirche war: junge jüdische und ältere Menschen, die vor dem Mikrofon gestanden, geredet, gesungen und mit uns gebetet haben. Es lag auf der Hand, dass die vor Ort kleinen jüdischen Gemeinden nicht sonderlich unter den freundlichen Blicken der DDR-Regierung und des Systems lebten. Das ist jetzt etwas bissig geantwortet. Die DDR war nicht judenfreundlich. Juden waren eher Feinde, bedingt durch den Staat Israel. Die Freundschaften der DDR lagen auf anderen Ebenen. Und: Wie auch in der Kirche, »ganz gleich welcher Konfession«, gab es sicherlich überall in der Gesellschaft Menschen, die Zuträger waren. Ich wurde mit den Worten verpflichtet, die Sache
zu schützen: »Traue niemandem!«. Prüfe immer, wäge ab – damit bin ich stets gut gefahren. Als ich meinen Dienst als Polizeipfarrer im Freistaat Sachsen antrat und meine Akte bekam, wusste ich genau, wo, wann und warum ich richtig gehandelt hatte.
Mit dem Görlitzer Pfarrer und ehemaligen Polizeiseelsorger sprach Katrin Richter.