Eine Hotellobby in der Leipziger Innenstadt, seichter Pop dringt aus den Lautsprechern, Kellner servieren Getränke und Speisen. Auf einem Tisch am Fenster hat Aviva Sofer die wenigen Dokumente ausgebreitet, die sie über das Leben ihres Vaters gesammelt hat. Darunter ist eine Geburtsurkunde: Wolfgang Silberfeld, geboren am 18. Mai 1929 in Leipzig. Ausgestellt wurde das Dokument vom Rat der Stadt Leipzig in der Deutschen Demokratischen Republik im Dezember 1987. Aviva Sofer ist mit ihrem Sohn Reuven aus Kiryat Motzkin in Israel gekommen, um mehr über das Leben ihres Vaters in der Messestadt zu erfahren.
Einmal im Jahr lädt die Stadt jüdische Leipziger, die vor den Nazis fliehen mussten, ein, damit sie ihre alte Heimat besuchen können. Mit den Jahren sind immer mehr Nachfahren dazu gekommen. Es gibt ein offizielles Programm, Konzert- und Ausstellungsbesuche, Begegnungen mit den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde. Doch das interessiert Aviva Sofer nicht so sehr. Sie will heute zu dem Haus fahren, in dem ihr Vater in den 30er-Jahren mit seiner Familie lebte. Das ist ihr sehr wichtig, das merkt man. »Vielleicht finden wir jemanden, der mit ihm in den Kindergarten ging. Vielleicht«, sagt sie.
Theresienstadt Viel weiß sie nicht über die Jugend ihres Vaters. Nur so viel, dass er in Leipzig geboren wurde und hier in den Kindergarten und zur Schule ging. Dann endete seine Kindheit abrupt. Er wurde gemeinsam mit seinem Vater und zwei Brüdern nach Theresienstadt deportiert. Eine Schwester kam nach Auschwitz, die andere überlebte mit der Mutter zu Hause in Leipzig, erzählt Aviva. Und hier beginnen schon die Ungereimtheiten. »Dass Mutter und Tochter in Leipzig bleiben durften, ist sehr seltsam – ich weiß nicht, warum«, sagt Sohn Reuven und macht mit den Händen eine hilflose Geste. Denn sein Großvater hat nie über sein Leben vor der Schoa gesprochen.
Auch Aviva erzählt, sie habe ihren Vater oft danach gefragt, aber nie eine Antwort bekommen. »Ich glaube, er wollte vergessen. Das war zu schmerzhaft für ihn.« Als er mit nur 59 Jahren starb, blieb seine Tochter ohne Antworten zurück. Denn auch die Großmutter und die Geschwister sprachen nie über diese Zeit. »Ich glaube, die ganze Familie wollte diesen Lebensabschnitt vergessen.« Ihren Vater beschreibt sie als einen gebrochenen Mann: nervös und wütend, mit vielen gesundheitlichen Problemen. »Wissen Sie, was er jeden Tag nach dem Aufstehen zu mir gesagt hat? ›Hitler hat mir mein Leben genommen‹.« Dazu war er sehr ängstlich.
Aviva bekam von ihrem Vater nie eine Antwort auf ihre Fragen.
Er wollte vergessen.
Sie erinnert sich, wie sie einmal als Teenager abends ausgegangen war. Um 22 Uhr sollte sie zu Hause sein, doch sie hatte sich um fünf Minuten verspätet. »Mein Vater stand hinter der Tür und hat gewartet. Er hat nichts gesagt, aber heute glaube ich, dass er Angst hatte, dass mir was passiert ist«, erinnert sich Aviva. Sie wirkt mit ihren langen blonden Haaren, die von einem Haarreif zusammengehalten werden, immer noch ein wenig mädchenhaft.
Familiengeschichte Während des Gesprächs ist der Tochter anzumerken, dass ihr die Suche nahegeht, sie kämpft mit den Tränen. Sohn Reuven hat eine ganz andere Herangehensweise an die Familiengeschichte. »Für meine Mutter ist es sehr wichtig, etwas über die Vergangenheit zu lernen. Ich hingegen will Schlüsse für die Zukunft daraus ziehen«, sagt er. »Wenn dieser Horror in Deutschland passieren konnte, mit all seiner Kultur und Wissenschaft, seinen Philosophen und Künstlern – dann kann es überall auf der Welt passieren.« Für ihn folgt daraus die Pflicht, etwas gegen Rassismus zu tun. Überall auf der Welt – auch in Israel.
Nachdem sie in ihrer Familie auf eine Mauer des Schweigens stießen, sind Aviva und Reuven Sofer bei ihrer Suche darauf angewiesen, andere Informationsquellen zu finden. Aviva, die selbst in einem Archiv in ihrer Heimatstadt arbeitet, hat unter anderem das sächsische Staatsarchiv in Leipzig angeschrieben. Das reagierte behördentypisch: »Bei der Bearbeitung Ihrer Anfrage werden voraussichtlich Gebühren gemäß SächsArchivGebVO anfallen. Für den Versand eines Gebührenbescheids benötigen wir Ihre Postanschrift. Wir bitten Sie daher zunächst, uns diese mitzuteilen.« Aviva schüttelt den Kopf. »Ich glaube, die wollen uns keine Auskunft geben.«
Dokumente Über verschiedene Umwege fand Aviva Sofer eine Verbündete in Leipzig: Die Historikerin Jutta Faehndrich. Sie hat schon öfter für Hinterbliebene von Opfern der Schoa recherchiert und auch in diesem Fall schon erste Ergebnisse geschickt. »Sie hat ein Dokument gefunden, dass meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, eine Christin war. Und das ist der Grund, warum sie den Krieg überlebt haben.« Aviva ist sich sicher, dass ihr Vater nichts davon wusste. »Ich konnte nicht glauben, dass meine Großmutter, die in Israel gelebt hat, keine Jüdin war. Aber für mich ist sie meine Großmutter, die ich liebe.«
Auch die Adresse im Stadtteil Mockau, zu der sie sich auf den Weg machen, hat Jutta Faehndrich gefunden – im Leipziger Jüdischen Jahr- und Adressbuch von 1933. Nach einer kurzen Taxifahrt steigen sie dort aus. Reihen von immer gleichen Mehrfamilienhäusern, minimalistischer Fassadenschmuck mit kleinen Fenstern. Eine Arbeitergegend, eilig errichtet in den 30er-Jahren.
Das Haus mit der Nummer 40 sieht aus wie die Nachbargebäude. Mutter und Sohn stehen etwas unentschlossen auf dem Gehweg vor dem Haus, als sich knapp über ihnen ein Fenster öffnet und ein junger Mann seinen Kopf heraussteckt. Er ist freundlich und hilfsbereit, aber helfen kann er doch nicht. Alte Nachbarn gibt es hier nicht mehr, der gesamte Block stand in den 90er-Jahren leer und verfiel, bevor er wieder saniert wurde, sagt er. Die Spur ist kalt geworden.
Erinnerung Als Reuven ein paar Fotos vom Haus und der Straße macht, fängt seine Mutter auf einmal an zu weinen. Sie wendet sich ab, durchsucht ihre Handtasche nach einem Taschentuch, ihr Sohn tröstet sie. »Ich habe mir vorgestellt, wie die Nazis hierherkamen und meinen Vater abgeholt haben«, wird sie später entschuldigend erklären. Die beiden stellen noch eine brennende Kerze auf den Sims des Kellerfensters, eine kleine Geste der Erinnerung im Mockauer Alltag, dann fahren sie zum Hotel zurück.
Aviva ist still und nachdenklich geworden. Sie mag sich nicht mehr unterhalten, schaut schweigend aus dem Fenster der Straßenbahn, wo die alte Heimat ihres Vaters an ihr vorbeizieht, die Heimat, die sich so fürchterlich gegen ihn wandte, dass er sie vergessen wollte. Wirklich viel hat sie heute nicht gefunden. Am Mittwoch will sie mit ihrem Sohn und Jutta Faehndrich ins Staatsarchiv und zur Gemeinde, weitere Spuren suchen. Dort wird sie einiges finden, sagt die Historikerin, die die Dokumente schon eingesehen hat, am Telefon. Es ist also gar nicht unwahrscheinlich, dass die Dame mit der sanften Stimme endlich die Informationen bekommt, die ihr so gefehlt haben.