Esslingen

Ein Zeichen für Frieden

Spielt ›Hevenu Shalom Alechem‹», ruft Wolfgang Drexler Richtung Musikband. Der Esslinger Landtagsabgeordnete der SPD hat allen Grund, sich etwas zu wünschen an diesem späten Abend, nachdem vor nicht mehr als zwei Stunden gleich nebenan die neue Torarolle eingebracht wurde. «Spielt ›Hevenu Shalom Alechem‹», ruft Drexler noch einmal, und sein schwäbisches «a» in Shalom fällt noch gedehnter aus als üblich, so als müsse er dem Wort Nachdruck verleihen.

Doch haben nicht alle Redner an diesem denkwürdigen Tag betont, dass die neue Torarolle für die nur 200 Mitglieder zählende Zweigstelle der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) 78 Jahre nach der Schändung der Synagoge in der Altstadt von Esslingen und der Vertreibung und Ermordung der Gemeindemitglieder «ein Zeichen für Frieden» sei? Drexler hatte die Initiative «Eine Torarolle für Esslingen» ins Leben gerufen. Und so tanzt der ehemalige Vizepräsident des baden-württembergischen Landtags jetzt mit vielen anderen Festgästen zu seiner Wunschmusik der Gruppe «Freylekh».

Rabbiner Netanel Wurmser sitzt derweil in einem anderen Teil des kleinen Gartens, in dem die IRGW nach der Zeremonie zum Empfang geladen hat. Eine «riesengroße Freude» ist die neue Torarolle für den Landesrabbiner. Gemeinsam mit seinem Kollegen, dem für Esslingen zuständigen Rabbiner Jehuda Puschkin, hat er die bisherige, aus der Ukraine ausgeliehene Sefer Tora gegen die neue getauscht und in den Aron Hakodesch eingebracht.

Historisch «Wir sind Zeugen einer unglaublichen Story», hatte Wurmser zu Beginn des Abends im Alten Rathaus gesagt. Ausgerechnet in der «guten Stube» einer Stadt eine Torarolle zu Ende zu schreiben, das hätte niemand für möglich gehalten. «Rabbiner Yitzhak Goldstein hat die Torarolle geschrieben und aus Jerusalem nach Esslingen gebracht, das hat historische Dimensionen», sagte der Landesrabbiner. Am 28. Oktober 1933 war in der kleinen Esslinger Synagoge der letzte Gottesdienst gefeiert worden.

«Ich nutze die Gelegenheit, an Joseph Leo Staropolski zu erinnern», sagte Wurmser. Staropolski war der letzte Chasan. Er hatte die Gemeinde 30 Jahre lang begleitet. Die Suche nach seinen Spuren führte nach Theresienstadt, wo er vermutlich am 18. September 1942 ermordet wurde. 1938 war die Synagoge geschändet und die Torarolle entwendet worden. «Heute kehren die verbrannten Buchstaben der Torarolle geordnet zurück. Möge die Kraft dieser Torarolle Sühne für Generationen bringen», wünschte Wurmser.

Pünktlich begann im Bürgersaal der offizielle Festakt. Geladen waren Vertreter von Stadt und Land, Bürger und Gemeindemitglieder. Doch die Einmaligkeit der Situation bestand darin, dass etwa 50 Rabbiner die Stuhlreihen füllten. Zeitgleich fand ein Seminar der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD) in Stuttgart und Esslingen statt.

So nutzte Barbara Traub, Vorstandssprecherin der IRGW, die Gelegenheit, die Rabbiner zu bitten, «in die ganze Republik hinauszutragen, dass Esslingen ein ganz besonderer Ort» sei. An der Initiative «Eine Torarolle für Esslingen» hatten sich seit ihrer Gründung im Frühjahr 2015 mehr als 18 Vereine und Organisationen, darunter die Esslinger Kirchengemeinden und örtliche Moscheevereine, beteiligt. Und schon ein Jahr später waren mehr als 40.000 Euro an Spenden zusammengekommen.

«Unsere Initiative war die Reaktion auf Meldungen zu antijüdischen Straftaten in Deutschland, das hat uns keine Ruhe gelassen», betonte der Esslinger Landtagsabgeordnete Drexler. «Doch wir wollten nicht nur Geld sammeln, wir haben auch etwas über jüdische Geschichte gelernt. Antisemitismus kann sich nur entwickeln, wo eine schweigende Mehrheit zusieht», so Drexler weiter. Die Esslinger Bürgerschaft wolle «die jüdische Gemeinde in unsere Mitte nehmen und beschützen».

Drexler gehörte zu den 15 Personen, denen die Ehre zuteil wurde, gemeinsam mit Sofer Yitzhak Goldstein die letzten Buchstaben zu vollenden. In einem persönlichen kurzen Gespräch erklärte Goldstein, welche Bedeutung den einzelnen Buchstaben zukommt; symbolisch ergriff der Geehrte den Federkiel, dann schrieb Goldstein den Buchstaben.

Mut Für den Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden, Abraham Lehrer, war die Vollendung und Einbringung der Torarolle «ein fröhlicher Tag» – ein Vorgeschmack auf das Fest Simchat Tora im Herbst. «Um ein Gemeindezentrum aufzubauen, braucht es viel Mut, Kraft und Fantasie», betonte Lehrer.

Ein Blick in die Vergangenheit zeige: Dreimal hätte die Gemeinde neu starten müssen. 1348 seien Juden wegen der Pest vertrieben, 1544 aus Esslingen ausgewiesen und in der Nazizeit dann gar ermordet worden. Jetzt könnten die Mitglieder der IRGW mit der «neuen jüdischen Erfolgsgeschichte am Neckar» die Früchte ihrer Arbeit ernten. «Eine neue Torarolle, gestiftet von den Bürgern dieser 100.000 Einwohner zählenden Stadt, einzubringen, bedeutet, dass sich Juden wohlfühlen in diesem Land», sagte Lehrer. Zugleich sei es auch ein Warnsignal gegen die unsäglichen Parolen von Pegida und AfD.

«Von einem historischen Moment» sprach auch Oberbürgermeister Jürgen Zieger. «So viele Rabbiner, das ist ein besonderes Ereignis im kulturellen Leben in unserer Stadt», bekannte Zieger. Die Intitiative für das Spenden einer Torarolle habe die Bürgerschaft «zu ihrer eigenen Sache» gemacht. «Mit dieser Torarolle wollen wir eine schmerzliche Lücke schließen, wir fühlen uns in dieser Stadt dem religiösen Pluralismus, der Toleranz und unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung verpflichtet», bekannte der OB.

Grüße von Ministerpräsident Winfried Kretschmann überbrachte Manfred Lucha. Der neue Sozialminister des Landes Baden-Württemberg sagte: «Respektvolles Miteinander ist in einem modernen Land nötig und möglich.» Esslingen sei «eine weltoffene Stadt».

Tanz Nach der Vollendung der Torarolle zogen die Rabbiner – nicht müde werdend – singend und tanzend durch die Straßen der Altstadt. Zaungäste wunderten sich über das wohl einmalige Bild in ihrer Stadt. Viele fotografierten, kamen aus ihren Wohnungen, manche reihten sich in den Festzug ein. Strohgasse, Kupfergasse, vorbei an der Franziskanerkirche, hinein in die Schmale Gasse, die bis 1937 «Judengasse» hieß, dann zur Synagoge im Alten Heppächer, wo die neue Torarolle jetzt ihren Platz gefunden hat.

Rabbiner Julian-Chaim Soussan aus Frankfurt erinnerte daran, dass er vor 25 Jahren in Esslingen 15 jüdischen Schülern Religionsunterricht erteilt hat. «Die Schüler sprachen kaum Deutsch, ich kein Russisch, es war schwer, Wörtern Inhalte zu geben», sagte Soussan. Am schwersten aber sei es gewesen, die Bedeutung von «Duscha – Seele» zu finden. «Es ist sehr, sehr bewegend zu sehen, dass es jetzt hier eine Gemeinde gibt, einen Rabbiner, der sich um sie kümmert, eine Rebbetzin, die für die Menschen da ist, und auch die Tora ist die Manifestation des Göttlichen in dieser Welt.»

Und der Rabbiner fügte lächelnd hinzu: «Stellen Sie sich vor, die Richter des Verfassungsgerichts würden mit dem Grundgesetz durch Karlsruhe tanzen. Wir aber tanzen durch Esslingen mit der Torarolle.» Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – diese Menschenrechte fänden sich in der Schrift.

«Es ist ein Wunsch, und es ist ein Wille, denn von ihrer Herkunft her sind seit Adam und Eva alle Menschen gleich», sagte Soussan.

Porträt der Woche

Die Zuhörerin

Mariya Dyskin ist Psychologin und möchte sich auf Kriegstraumata spezialisieren

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.03.2025

Berlin

Staatsanwaltschaft: Deutlich mehr antisemitische Straftaten

Im vergangenen Jahr wurden 756 Fälle registriert

 16.03.2025

Erfurt

Israelischer Botschafter besucht Thüringen

Botschafter Ron Prosor wird am Montag zu seinem Antrittsbesuch in Thüringen erwartet

 15.03.2025

Interview

»Wir reden mehr als früher«

Rabbiner Yechiel Brukner lebt in Köln, seine Frau Sarah ist im Herbst nach Israel gezogen. Ein Gespräch über ihre Fernbeziehung

von Christine Schmitt  13.03.2025

Bundeswehr

»Jede Soldatin oder jeder Soldat kann zu mir kommen«

Nils Ederberg wurde als Militärrabbiner für Norddeutschland in sein Amt eingeführt

von Heike Linde-Lembke  13.03.2025

Hamburg

Hauptsache kontrovers?

Mit der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille wurde die »Christlich-Jüdische Zusammenarbeit 2025 – 5785/5786« eröffnet. Die Preisträger sind in der jüdischen Gemeinschaft umstritten

von Heike Linde-Lembke  13.03.2025

Purim

Schrank auf, Kostüm an

Und was tragen Sie zum fröhlichsten Fest im jüdischen Kalender? Wir haben uns in der Community umgehört, was in diesem Jahr im Trend liegt: gekauft, selbst gemacht oder beides?

von Katrin Richter  13.03.2025

Feiertag

»Das Festessen hilft gegen den Kater«

Eine jüdische Ärztin über Alkoholkonsum an Purim und die Frage, wann zu viel wirklich zu viel ist

von Mascha Malburg  13.03.2025

Berlin

Persien als Projekt

Eigens zu Purim hat das Kunstatelier Omanut ein Wandbild für die Synagoge Pestalozzistraße angefertigt

von Christine Schmitt  13.03.2025