Lob und Anerkennung der Redner und Gäste für eine ganz außergewöhnliche Leistung wären der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG) sicher gewesen. Doch die Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag ihrer Wiedergründung am 15. Juli 1945 mussten wegen der Corona-Krise ausfallen. An der Bedeutung des Tages für die Gemeinde und das jüdische Leben in München änderte die Absage jedoch nichts.
Den weiten und schwierigen Weg, der nach der nahezu vollständigen Zerstörung des Judentums durch die Nazis bis hin zur Rückkehr ins Herz der Stadt zurückgelegt werden musste, kennt IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch aus vielerlei Gründen ganz besonders gut. Sie ist seit mehr als drei Jahrzehnten Präsidentin der Gemeinde, vor allem aber hat sie die Nazis ebenso wie die Wiedergründung der IKG aus direkter Nähe miterlebt – und sie ist nicht zuletzt die Tochter von Siegfried »Fritz« Neuland sel. A.
kriegsende Über ihn schreibt Juliane Wetzel vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung in einem Beitrag, der die Wiedergründung der IKG wenige Wochen nach Kriegsende beleuchtet: »Nach der Befreiung bemühte sich Siegfried Neuland rasch darum, einen institutionellen Rahmen für die überlebenden Münchner Juden zu schaffen.«
Charlotte Knoblochs Vater hatte vor der sogenannten Machtergreifung der Nazis bis zur 1938 erzwungenen Schließung eine florierende Anwaltskanzlei in der Nähe des Stachus betrieben. Danach musste er als Zwangsarbeiter in einer Munitionsfabrik arbeiten.
Am 15. Juli 1945 fand die konstituierende Sitzung der IKG München statt.
Die Unterschrift von Siegfried Neuland findet sich zum Beispiel auf dem Antrag an das Bayerische Kultusministerium zur Wiedergründung einer Religionsgemeinschaft. Das Dokument datiert vom 16. Juni 1945 und spiegelt auch die damalige Situation wider. Neuland berichtet darin von noch 430 Menschen jüdischer Abstammung in München, darunter etwa 70 bis 80 »Konfessionsjuden«.
Bereits einen Monat später, am 15. Juli, fand im unversehrt gebliebenen jüdischen Altenheim in der Kaulbachstraße 65 die konstituierende Sitzung der Israelitischen Kultusgemeinde München statt. 105 Personen nahmen daran teil und wählten den Kinderarzt Julius Spanier zum Präsidenten.
Siegfried Neuland war zunächst Vizepräsident und seit 1951 bis zu seinem Tod im Jahr 1969 Präsident der Gemeinde. Ab dem Jahr 1951 bis zu seinem Ableben war er Mitglied des Bayerischen Senats und wurde 1959 mit dem Bayerischen Verdienstorden ausgezeichnet.
hauptsynagoge Der Verwaltungssitz befand sich damals in der Herzog-Max-Straße 7, in unmittelbarer Nähe zu dem Ort, an dem bis 1938 die Münchner Hauptsynagoge gestanden hatte. Am neuen Sitz der IKG, in einem ehemaligen Bibliotheksbereich, wurde im September 1945 anlässlich des Neujahrsfestes auch der erste Gottesdienst nach dem Krieg gefeiert.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit, bis in die 50er-Jahre hinein, waren München und das Umland die zentrale Anlaufstelle für sogenannte Displaced Persons (DP), befreite KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter. Den allermeisten von ihnen galt die Stadt damals nur als Durchgangsstation vor ihrer Ausreise vor allem in die USA und ab 1949 nach Israel.
Charlotte Knobloch erinnert sich noch gut an die Probleme und Schwierigkeiten, die mit der Wiedergründung der IKG verbunden waren. Allein der bürokratische, aber nachvollziehbare Aufwand im Umgang mit der US-Besatzungsmacht sei gewaltig gewesen.
manifestierung Schwierig und den Umständen geschuldet war auch die Manifestierung der wiedergegründeten IKG. Vor allem die Überwindung der Unterschiede zwischen deutschem und osteuropäischem Judentum brauchte Zeit. Erst in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre wuchsen diese beiden diametral wirkenden Hälften zusammen.
Zur konsequenten Umsetzung der Wiedergründung gehörte auch der zügige Wiederaufbau der Synagoge in der Reichenbachstraße. Bereits am 20. Mai 1947 wurde sie als eine der ersten Synagogen der Nachkriegszeit eingeweiht.
Welche Bedeutung dieser religiöse Akt gerade in jener Stadt hatte, die wenige Jahre zuvor als »Hauptstadt der Bewegung« fungierte, erschließt sich aus der Gästeliste. Neben zahlreichen Vertretern jüdischer Gemeinden und Organisationen, Ministerpräsident Hans Ehard und Oberbürgermeister Karl Scharnagl nahm an der Feier auch General Lucius D. Clay teil, der Oberkommandierende der amerikanischen Streitkräfte in Europa.
Einer, der wie kaum ein anderer die Entwicklung der wiedergegründeten Israelitischen Kultusgemeinde in der Nachkriegszeit begleitet hat, ist Altoberbürgermeister Hans-Jochen Vogel. Seit Ende der 50er-Jahre, als er in München berufsmäßiger Stadtrat und Rechtsreferent wurde, war ihm der Brückenschlag zur jüdischen Gemeinde auch ein inneres Anliegen.
»ur-gemeinde« In einem Beitrag der Festschrift zum 200-jährigen Bestehen der »Ur-Gemeinde« (2015) berichtet er von seinen vielen persönlichen Gesprächen mit Juden in den 60er-Jahren, als die Stadt auf seine Initiative hin alle ehemaligen jüdischen Bürger zu einem Besuch einlud.
»Diese Gespräche«, schreibt er, »haben mich sehr beeindruckt. Alle, die da kamen, hatten Schweres mitgemacht, keiner war dabei, der nicht Angehörige in einem deutschen Vernichtungslager verloren hatte. Und doch sprachen sie mit einer Liebe und Anhänglichkeit von ihrer Vaterstadt, die mich beschämte.«
Zur konsequenten Umsetzung der Wiedergründung gehörte auch der zügige Wiederaufbau der Synagoge in der Reichenbachstraße.
Sein Verhältnis zu Charlotte Knobloch bezeichnet Hans-Jochen Vogel als »eng« und »persönlich«, basierend auf einer langen und kontinuierlichen Geschichte. Das ist leicht nachvollziehbar. Der erste Präsident der Gemeinde, den er 1960 als Oberbürgermeister persönlich kennenlernte, war der Vater der amtierenden Präsidentin.
entwicklung In Bezug auf die Gemeinde, die Rolle von Siegfried Neuland und seiner Tochter Charlotte Knobloch, spricht Vogel von einer »kaum vorstellbaren« Entwicklung und einem »Wunder«. Kaum vorstellbar sei gewesen, dass sich überhaupt wieder eine Kultusgemeinde in der ehemaligen Nazi-Hochburg München etablierte, und es gleiche einem Wunder, dass die Gemeinde an den Jakobsplatz, ins Herz der Stadt, zurückgekehrt sei.
Ungetrübt ist der Blick zurück auf die vergangenen 75 Jahre nach Wiedergründung der Gemeinde nicht. Der ungeklärte Brandanschlag auf das jüdische Altenheim in der Reichenbachstraße (1970), der sieben Todesopfer forderte, und das Olympia-Attentat 1972 auf die israelische Mannschaft sind besonders abscheuliche antisemitische und israelfeindliche Verbrechen.
Zum Alltag gehört Antisemitismus auch heute. »Er war in Deutschland nie ausgestorben. Ganz im Gegenteil, er wächst seit Jahren wieder an. Wenn Rabbiner unserer Gemeinde auf offener Straße beleidigt werden, ist es bis zur Normalität noch ein weiter Weg«, muss Charlotte Knobloch zum Jubiläum feststellen.