Justin Sonder

Ein warmherziger und kluger Mensch

Justin Sonder (1925–2020) sel. A. Foto: CITYLENS Chemnitz / André Koch

Mit Justin Sonder hat die jüdische Gemeinschaft in Chemnitz einen ihrer bekanntesten Zeitzeugen und Versöhner verloren. Wenige Tage nach seinem 95. Geburtstag ist er vergangene Woche in der sächsischen Metropole gestorben. Bis ins hohe Alter hinein war Sonder unterwegs in Schulklassen, auf Diskussionsforen, auf Gedenkveranstaltungen, aber auch zu Gerichtsprozessen gegen vormalige Nazitäter – so noch 2016 in Detmold als Zeuge im Prozess gegen den 94-jährigen ehemaligen SS-Unterscharführer Reinhold Hanning.

Auschwitz hat das Leben von Justin Sonder stark überschattet, aber ihn selbst nie brechen können. Seine Eltern wurden schon 1942 über Theresienstadt in das berüchtigte Konzentrations- und Vernichtungslager verbracht. Ein Jahr später sollte Sohn Justin folgen, er kam direkt nach Auschwitz III Monowitz.

Was der junge Mann vom Februar 1943 bis zum April 1945 durchmachte – er wurde, wie sein Vater auch, bei Kriegsende schließlich von amerikanischen Soldaten in Bayern befreit –, darüber konnte er jahrzehntelang nicht sprechen. Für ihn selbst war die Zeit in Auschwitz-Monowitz ein ständiger Kampf ums Überleben, den er dank seiner Jugend, eines durchtrainierten Körpers und mit viel Glück gewann.

Todesmarsch Doch was er in Auschwitz und entlang der Todesmarsch-Routen erleben musste, hat sich ihm tief eingegraben. »Immer wieder habe ich gesehen, wie wehrlose Häftlinge aus purem Hass oder aus Spaß getötet wurden, und wie versucht wurde, ihnen davor auch noch die eigene Würde zu nehmen«, berichtete Sonder später.

Nach der Befreiung von Justin Sonder und seinem Vater durch die Amerikaner – die Mutter hatte Auschwitz nicht überlebt – beschlossen beide, gegen den Rat von Freunden und Bekannten, in die völlig zerstörte Industriestadt Chemnitz zurückzukehren.

Der Vater starb bald nach der Rückkehr, die Lagerjahre hatten seinen Körper hoffnungslos ruiniert. Justin selbst schlug in der Stadt, die bald »Karl-Marx-Stadt« heißen sollte, wieder Wurzeln, heiratete, zog zusammen mit seiner Frau Marga die drei Kinder Kerstin, Gerhard und André groß und erfreute sich später zahlreicher Enkel und Urenkel.

Mehr als 40 Jahre lang arbeitete Justin Sonder bei der städtischen Kriminalpolizei, seit den frühen 90er-Jahren stand er dann regelmäßig vor Schulklassen. Am Ende wurden es mehr als 500 Veranstaltungen. »Was ich mit meinen eigenen Augen ansehen musste«, betonte Justin Sonder, »das darf sich nie mehr wiederholen.«

Neben Willkür und Folter erlebte Justin Sonder aber auch versteckte Hilfen und Solidarisierungen.

Er berichtete über Erlebnisse von Willkür, Folter, Demütigung und Tod, die sich bis in die letzten Kriegswochen hineinzogen. Vor den Lehrern und Schülern erinnerte er sich aber auch an kleine, versteckte Hilfen und Solidarisierungen im Chemnitz der NS-Zeit, zum Beispiel vom Fleischermeister, Butterhändler oder Friseur.

Ehrenmedaille Nach Auschwitz, an den Ort des Grauens, ist er noch einmal zurückgekehrt: 2011 begleitete er den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff zu einer Gedenkveranstaltung am 27. Januar. Vier Jahre später erhielt er die Ehrenmedaille des Internationalen Auschwitz Komitees.

Justin Sonder hat seine Erlebnisse auch für künftige Generationen in zwei Büchern festgehalten: Monowitz – Ich will leben! (zusammen mit Klaus Müller, 2013) und Chemnitz–Auschwitz und zurück. Aus dem Leben von Justin Sonder (von Margitta Zellmer, 2013).

Vor der jüdischen Tradition hatte Justin Sonder stets viel Respekt. Als Junge hatte er noch die 1938 zerstörte alte Chemnitzer Synagoge von innen gesehen und war beeindruckt. Das Interesse an Religion hielt sich aber zeitlebens in Grenzen. Die neue, inzwischen von Immigranten aus der einstigen UdSSR geprägte jüdische Gemeinde hat er an Feiertagen, zu Vorträgen und Gedenkveranstaltungen gleichwohl gern besucht und mit viel Sympathie begleitet.

»Schalom« Mindestens ebenso gern war Justin Sonder Gast im Chemnitzer Restaurant »Schalom«, wo ihm das lokale »Simcha«-Bier besonders gut schmeckte. »Justin war für uns ein Teil der Familie«, sagt Restaurantbesitzer Uwe Dziuballa. »Hier im Lokal hat er an jedem 23. April auch seinen, wie er sagte, zweiten Geburtstag gefeiert: seine Befreiung durch die Amerikaner im Frühjahr 1945.«

Auch die Stadt Chemnitz, die Sonder vor drei Jahren die Ehrenbürgerschaft verlieh, zeigte sich über den Tod ihres treuen Einwohners betroffen. Bürgermeister Miko Runkel schrieb: »Ich bin sehr traurig, so wie viele Chemnitzerinnen und Chemnitzer, die Justin Sonder kannten und ihn als warmherzigen und klugen Menschen schätzten.«

Buchvorstellung

Parallelen zum BDS-Boykott von heute

Andreas E. Mach untersuchte die Geschichte jüdischer Familienunternehmer in München

von Luis Gruhler  10.03.2025

Interview

»Wir reden mehr als früher«

Rabbiner Yechiel Brukner lebt in Köln, seine Frau Sarah ist im Herbst nach Israel gezogen. Ein Gespräch über ihre Fernbeziehung und eine Spendenkampagne für Familien israelischer Soldaten

von Christine Schmitt  10.03.2025

Militärseelsorge

Militärrabbiner Ederberg: Offenes Ohr für Soldaten im Norden

Arbeit bei der Bundeswehr sei Dienst an der Gesellschaft insgesamt, den er als Rabbiner gerne tue, sagt Ederberg

 10.03.2025

In eigener Sache

Zachor!

Warum es uns besonders wichtig ist, mit einer Sonderausgabe an Kfir, Ariel und Shiri Bibas zu erinnern

von Philipp Peyman Engel  10.03.2025 Aktualisiert

München

Hilfe von »Ruth«

Der Jüdische Frauenverein ermöglicht Bedürftigen ein Leben in Würde

von Luis Gruhler  09.03.2025

Berlin

Des Nougats Kern

Yahel Michaeli lädt in ihrer Patisserie zu Kursen ein, in denen sie die Kunst der Schokoladen- und Pralinenherstellung lehrt. Ein Besuch zwischen Mousse und Callets

von Alicia Rust  09.03.2025

Dialog

Buber-Rosenzweig-Medaille wird am Sonntag in Hamburg verliehen

In diesem Jahr geht die Medaille an das Ehepaar Meron Mendel und Saba-Nur Cheema. An der Auszeichnung gab es im Vorfeld scharfe Kritik aus der jüdischen Gemeinschaft

 09.03.2025

Porträt der Woche

Die DNA verändern

Esther Deppe aus Bielefeld studiert Chemie und möchte in der Genforschung arbeiten

von Gerhard Haase-Hindenberg  08.03.2025

Antisemitismus

Gert Rosenthal: »Würde nicht mit Kippa durch Neukölln laufen«

Die Bedrohung durch Antisemitismus belastet viele Jüdinnen und Juden. Auch Gert Rosenthal sieht die Situation kritisch - und erläutert, welche Rolle sein Vater, der Entertainer Hans Rosenthal, heute spielen würde

 07.03.2025