Der Historiker Michael Brenner lehrt sowohl in Washington, D.C., als auch an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU). Das Sommersemester 2023 verbrachte er in München und bescherte damit der studentischen, akademischen und nichtakademischen Zuhörerschaft eine Vielfalt an Veranstaltungen. Er war Gastgeber, Moderator oder Referent bei Themen wie Land- versus Großstadt-Judentum, Antisemitismus-Diskurs, Jiddisch-Symposium, Israel-Debatte und Doktoranden-Arbeiten.
Als jährlich wiederkehrendes Highlight gilt der Yerushalmi-Vortrag, den der Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der LMU München mit finanzieller Förderung durch die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern ausrichtet. Namensgeber ist der Historiker Yosef Hayim Yerushalmi (1932–2009), der eine Generation von Wissenschaftlern prägte und bahnbrechende Forschung zur jüdischen Historiografie betrieb.
einführung Brenner erinnerte in seiner Einführung zum 13. Vortrag an seinen Lehrer und freute sich, nach Koryphäen wie John Efron, Pamela Nadell, Steven Aschheim, Raphael Gross und Michael Meyer kürzlich Jeffrey Veidlinger begrüßen zu können. Er kennt den diesjährigen Gast, der an der University of Michigan lehrt, so gut, dass er sogar die Geschichte vom Nudel-Kigl zitieren kann. Die Familie hütet ein tiefgefrorenes Exemplar, das die Großmutter, offenbar eine hochbegabte Köchin, vor rund 43 Jahren zubereitete.
Veidlinger ist von der Überlebensgeschichte seines Vaters, eines ungarischen Schoa-Überlebenden, so geprägt, dass er sich der Erforschung der Geschichte der Juden in Osteuropa verschrieb, ob über jüdisches Kleinstadtleben im sowjetischen Teil der Ukraine oder das Moskauer Jiddische Theater.
Veidlinger ist von der Überlebensgeschichte seines Vaters so geprägt, dass er sich der Erforschung der Geschichte der Juden in Osteuropa verschrieb.
Nach München kam er für einen Vortrag über ein bislang nahezu vollständig vergessenes Thema: Pogrome, die sich zwischen 1918 und 1921 »mitten im zivilisierten Europa« abspielten und als »Vorgeschichte des Holocaust« zu begreifen sind.
flüchtlinge Wer sich wunderte, wieso es weiterhin Zuwanderung von Ostjuden nach dem Ende des antisemitisch aufgeladenen Zarenreichs und der Oktoberrevolution gab, dem werden bei der Lektüre des Buches, das nur ein Jahr nach der amerikanischen Ausgabe vom Verlag C.H. Beck in deutscher Fassung publiziert wurde, die Augen aufgehen. Übrigens gab es schon 1921 – und nicht erst im Oktober 1938 – Anstrengungen, auch in München unwillkommene jüdische Flüchtlinge handgreiflich wieder loszuwerden.
Nach vorsichtigen Schätzungen, so Veidlinger, kamen in der gerade gegründeten Ukrainischen Volksrepublik, die allen Minderheiten auf ihrem Territorium Gerechtigkeit versprach, an rund 1000 Orten mindestens 100.000 Juden zu Tode, 40.000 davon waren von ihren Nachbarn, Bauern, Studenten, Soldaten massakriert worden, die den Juden die Schuld an den Unruhen der russischen Revolution gaben. Bis zu 70.000 sollen den Folgen der Pogrome erlegen sein. Rund 600.000 Juden gelang die Flucht.
Veidlinger, der viele Jahre lang Feldstudien in der Ukraine betrieb und hochbetagte Schoa-Überlebende über ihre dramatischen Kindheitserinnerungen befragte, fand auch Belege dafür, dass die Welt Bescheid wusste.
Der »Literary Digest« fragte im Juni 1919 angesichts von Unruhen in Russland, Polen und der Ukraine: »Wird ein Massaker an den Juden der nächste europäische Schrecken sein?« Die Antwort stand in der »New York Times« vom 8. September 1919: »Ukrainische Juden versuchen, Pogrome zu stoppen«. Der Verrohung vor Ort, Gewalt gegen Juden als Sündenböcke, und der Gleichgültigkeit der Weltgemeinschaft war eine Schneise geschlagen.
Jeffrey Veidlinger: »Mitten im zivilisierten Europa. Die Pogrome von 1918 bis 1921 und die Vorgeschichte des Holocaust«. Aus dem Englischen von Martin Richter. Mit 47 Abb. und neun Karten. C.H. Beck, München 2022, 456 S., 34 €