EILMELDUNG! Internationaler Strafgerichtshof erlässt Haftbefehl gegen Israels Premier Netanjahu

Podium

Ein Teil von Berlin

Experten-Podium im Großen Saal der Neuen Synagoge in Berlin-Mitte: Julius H. Schoeps, Andreas Nachama, Hermann Simon, Moderatorin Shelly Kupferberg (v.l.) Foto: Margrit Schmidt

In einer Zeitung habe er lesen müssen, »dass vor 350 Jahren das jüdische Leben in dieser Stadt begann«, erzählt Ilan Kiesling in seinem Grußwort zum 350-jährigen Jubiläum der Neugründung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, deren Pressesprecher er heute ist. »Das ist natürlich falsch.« Juden lebten hier schon bedeutend länger.

So datiere der erste jüdische Grabstein der Region auf das Jahr 1244. Nur seien sie wiederholt vertrieben worden und dadurch gezwungen gewesen, immer wieder von vorne anzufangen. Was genau geschah also im Jahr 1671, das so wichtig war, dass man auch 350 Jahre später noch daran erinnert?

antwort Auch um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, kamen am vergangenen Sonntagnachmittag etwa 70 Personen – mehr durften coronabedingt nicht teilnehmen – in den Vortragssaal der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße.

Organisiert wurde die Veranstaltung von der Raoul Wallenberg Loge, die Teil des Netzwerks B’nai B’rith ist. Deren Präsident, András Kain, trat als Erster ans Mikrofon und kündigte dem Publikum ein »prominent besetztes Podiumsgespräch« an. Und Kain hatte nicht übertrieben: Auf dem Podium hatten drei ausgewiesene Kenner der Geschichte des Judentums in Deutschland Platz genommen.

Erst 1812 wurden die Berliner Juden formal gleichgestellte Bürger.

Neben dem Rabbiner, Professor und ehemaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Andreas Nachama, saßen auf der Bühne auch Julius H. Schoeps, emeritierter Geschichtsprofessor und Gründungsdirektor des Moses Mendelssohn Zentrums an der Universität Potsdam, sowie Hermann Simon, bis 2015 Gründungsdirektor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum.

SCHUTZBRIEF Durch die Veranstaltung führte die Journalistin und Moderatorin Shelly Kupferberg, die zunächst Andreas Nachama das Wort gab, der den Anwesenden ein Bild vom Kurfürstentum Brandenburg zur Mitte des 17. Jahrhunderts zeichnete: Die Region war durch den Dreißigjährigen Krieg in weiten Teilen entvölkert, und in der Ansiedlung gut ausgebildeter und wohlhabender Juden, die ein Jahrhundert zuvor noch aus Brandenburg verbannt worden waren, sah der Kurfürst die Gelegenheit für einen wirtschaftlichen Aufschwung.

Seiner Einladung folgten 50 jüdische Familien, ein Teil von ihnen kam auch nach Berlin. Auf den 10. September 1671 datiert der »Schutzbrief«, der die Daseinsberechtigung der neuen jüdischen Gemeinschaft der Stadt begründete und damit auch am Anfang der noch heute existierenden Jüdischen Gemeinde von Berlin steht.

Julius H. Schoeps machte an dieser Stelle aber noch einmal deutlich, dass die Juden auch danach noch am Rande der Gesellschaft existierten, ausgeschlossen von vielen Berufen sowie Ämtern in Militär und Verwaltung, und von der Mehrheitsgesellschaft mit Missgunst betrachtet.

Hermann Simons Familie lebt seit 13 Generationen in Berlin.

Erst 1812 wurden die Berliner Juden formal gleichgestellte Bürger – ein Erfolg, der nicht zuletzt auf den Einfluss jüdischer Aufklärer wie David Friedländer zurückging. Schoeps, übrigens ein direkter Nachfahre von David Friedländer, musste aber trotz dieses Fortschritts feststellen: »Mit der rechtlichen Gleichstellung kam nicht automatisch auch die gesellschaftliche Gleichberechtigung.« Diskriminierung und Vorurteile gegenüber Juden blieben bestehen.

GLANZPUNKTE Ob es denn trotz allem auch einmal ein »Goldenes Zeitalter« in den deutsch-jüdischen Beziehungen gegeben hatte, wollte Shelly Kupferberg daraufhin wissen. Während Nachama lieber von einigen »Glanzpunkten« sprechen wollte, legte Schoeps sich vorsichtig fest: »Am ehesten war das noch die Weimarer Zeit, in der die Juden wirklich glaubten, angekommen zu sein.« Diese Hoffnung wurde freilich enttäuscht, und zwar so bitter wie nie zuvor.

Hermann Simon beschrieb im Anschluss, wie nach der Befreiung Berlins durch die Rote Armee eine Handvoll jüdischer Überlebender den Versuch wagte, ein Unterstützungsnetzwerk für ihre notleidenden Glaubensgeschwister aufzubauen. Was zunächst nur als Provisorium geplant war, wurde Grundstein des Wiederaufbaus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Je näher man der Gegenwart kam, umso mehr konnten die Referenten aus eigener Erinnerung berichten.

Hermann Simon, dessen Familie seit 13 Generationen in Berlin lebt, fand sich nach der Gründung der beiden deutschen Staaten im Osten der Stadt wieder. Die Zweiteilung Berlins bedeutete auch eine Zweiteilung und teilweise Entfremdung der jüdischen Gemeinschaft.

WIEDERVEREINIGUNG Aus Sympathie mit der kleinen Ost-Gemeinde stellte Julius H. Schoeps Ende der 80er-Jahre dort einen Beitrittsantrag – eine Anekdote, die viel Heiterkeit im Publikum auslöste. Zu seinem Beitritt kam es aber nicht mehr, die Wiedervereinigung kam dazwischen, und kurz darauf wuchs durch die jüdische Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion die Mitgliederzahl der Jüdischen Gemeinde zu Berlin enorm an – eine weitere Zäsur in ihrer Geschichte, dieses Mal eine freudvolle.

Aus Sympathie mit der kleinen Ost-Gemeinde stellte Julius H. Schoeps dort einen Beitrittsantrag.

Am Ende wünschte sich Moderatorin Shelly Kupferberg von den Referenten noch einen Blick auf die Gegenwart des Judentums in Berlin. Andreas Nachama zeigte sich erfreut über die Pluralisierung und Ausdifferenzierung des jüdischen Lebens der Stadt. »Ich bin neugierig und gespannt, wie sich das entwickelt.« Hermann Simon griff einen Satz aus dem Grußwort Ilan Kieslings auf. Der Pressesprecher hatte gesagt: »Wir sind Teil der Geschichte dieser Stadt und werden es auch bleiben.«

Hermann Simon stimmte grundsätzlich zu, mahnte aber auch: »Will die Jüdische Gemeinde die Geschichte Berlins auch heute mitgestalten, muss sie wieder sichtbarer werden.« Die vergangenen 350 Jahre jüdischen Lebens in Berlin, das wurde durch die Veranstaltung deutlich, haben große Fußstapfen hinterlassen, die es heute zu füllen gilt.

Leo-Baeck-Preis

»Die größte Ehre«

BVB-Chef Hans-Joachim Watzke erhält die höchste Auszeichnung des Zentralrats der Juden

von Detlef David Kauschke  21.11.2024

Düsseldorf

Für Ausgleich und Verständnis

Der ehemalige NRW-Ministerpräsident Armin Laschet erhielt die Josef-Neuberger-Medaille

von Stefan Laurin  21.11.2024

Jubiläum

Religionen im Gespräch

Vor 75 Jahren wurde der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gegründet

von Claudia Irle-Utsch  21.11.2024

Engagement

Helfen macht glücklich

150 Aktionen, 3000 Freiwillige und jede Menge positive Erlebnisse. So war der Mitzvah Day

von Christine Schmitt  20.11.2024

Volkstrauertag

Verantwortung für die Menschlichkeit

Die Gemeinde gedachte in München der gefallenen jüdischen Soldaten des Ersten Weltkriegs

von Vivian Rosen  20.11.2024

München

»Lebt euer Leben. Feiert es!«

Michel Friedman sprach in der IKG über sein neues Buch – und den unbeugsamen Willen, den Herausforderungen seit dem 7. Oktober 2023 zu trotzen

von Luis Gruhler  20.11.2024

Aus einem Dutzend Ländern kamen über 100 Teilnehmer zum Shabbaton nach Frankfurt.

Frankfurt

Ein Jahr wie kein anderes

Was beschäftigt junge Jüdinnen und Juden in Europa 13 Monate nach dem 7. Oktober? Beim internationalen Schabbaton sprachen sie darüber. Wir waren mit dabei

von Joshua Schultheis  20.11.2024

Porträt

»Da gibt es kein ›Ja, aber‹«

Der Urgroßvater von Clara von Nathusius wurde hingerichtet, weil er am Attentat gegen Hitler beteiligt war. 80 Jahre später hat nun seine Urenkelin einen Preis für Zivilcourage und gegen Judenhass erhalten. Eine Begegnung

von Nina Schmedding  19.11.2024

ZWST-Tagung

Das Fremdsein überwinden

Experten tauschten sich über Strategien zur besseren Integration von Minderheiten aus

von Johanna Weiß  19.11.2024