Solidarität

Ein Tag braucht mehr als 24 Stunden

Die Anstrengungen und die Sorgen sieht man Boris an. In den vergangenen Wochen hat er fast täglich gearbeitet – nicht für seine eigene Firma, sondern für die Flüchtlinge, die in Deutschland angekommen sind. Und er organisiert Transporte in die Ukraine. Soeben ist ein Transporter am Turm 3, seiner Lagerhalle in Berlin-Reinickendorf, vorgefahren.

In den nächsten Stunden wird er beladen mit Medikamenten, Lebensmitteln und Hygieneprodukten. Mit dabei werden Gaskocher, Schutzwesten, Helme und Nachtsichtgeräte für die ukrainischen Soldaten sein. »Viele Menschen haben gespendet oder das Material eingekauft und vorbeigebracht«, sagt der 42-Jährige. Alexander, der den Transporter fahren wird, wirkt schon etwas ungeduldig. Er möchte los, denn es liegt eine weite Strecke vor ihm. Ziel wird die Stadt Dnipro sein.

KORRIDORE An diesem kalten Tag ist es noch ruhig in der Lagerhalle. Der Transporter ist in der Zwischenzeit gestartet. Über die humanitären Korridore in der Ukraine können die Waren an die gewünschten Orte geliefert werden, neue Produkte müssen allerdings erst in Polen verzollt werden.

Die Mutter eines Babys kam und fragte schüchtern nach Windeln und Milch.

Vor der Lagerhalle sind mehrere kleine Schilder angebracht. »Hier bitte Medikamente«, »Hier Pampers und Babynahrung« und »Hier Schlafsäcke und Decken« steht auf ihnen geschrieben. »Am Anfang kamen so viele Menschen vorbei, um Sachen zu spenden«, meint Boris. Da wurde es sehr schnell schwierig, sie sinnvoll zu sortieren. »Glücklicherweise trafen auch sofort Freiwillige ein, die immer noch helfen und uns weiter tatkräftig unterstützen«, so sein Mitarbeiter und Freund Viacheslav Budnyk.

KARTONS Schon am 25. Februar, einen Tag nach der russischen Invasion in die Ukraine, wurden die beiden aktiv. Bekannte hatten in einem Restaurant angefangen, eine provisorische Annahmestelle einzurichten. Aber es fehlten Kartons, um die Sachen zu verstauen. Also fuhren sie zu Boris’ Firma, der Customs Service & Logistik GmbH, um welche zu holen. »Und natürlich Kleberolle, um sie zu verschließen«, sagt Boris.

Das war der Startschuss. Denn beiden war klar, dass sie über alles notwendige Know-how und die erforderlichen Dinge verfügen, um helfen zu können. Die Logistik ist für sie Routine, ebenso das Ausfüllen der notwendigen Frachtpapiere. »Bestimmte humanitäre Lieferungen, die nicht aus der EU in Berlin eintreffen, werden zollamtlich von mir abgefertigt, um an der Grenze die Ausfuhrregelungen einzuhalten.« So könne der Transport schneller weiterfahren. Das Lager in Reinickendorf bietet noch einige Quadratmeter Platz, und der Vermieter erlaubte, den Eingangsbereich mit zu nutzen. Dort sind gerade Tüten mit Anziehsachen gestapelt. Über WhatsApp machten Boris und Viacheslav ihr Hilfsangebot publik.

Viacheslav kümmert sich auch um Flüchtlinge, von denen einige in das Lager kommen, um mitzuhelfen.

Auch die ukrainischen Flüchtlinge kamen und kommen immer noch, um sich warme Jacken, Hosen, Pullover, Tierfutter und anderes herauszusuchen. »Sie sind sehr scheu und schauen kaum hoch«, sagt Boris, der als Kind mehrere Jahre in der Ukraine gelebt hat. Mit einer Frau habe er sich länger unterhalten. »Sie sagte, dass sie nicht mehr besitzt, als sie gerade anhat.« Alles andere musste sie zurücklassen.

SPIELSACHEN Eine Mutter mit einem Baby kam und fragte schüchtern nach Windeln und Milch. Er versorgte sie mit allem, und als sie aus der Halle ging, sah er, dass sie noch zwei weitere Kinder dabei hatte, die draußen warteten. Die Mutter war so bescheiden, dass sie für diese gar nichts nachgefragt habe. Er holte sie, damit sie sich Anziehsachen und Spielsachen aussuchen konnten. »Jedes Lächeln zählt für mich, für uns«, so der Vater zweier Kinder. Und ihre offensichtliche Freude, wenn sie Spielsachen, Malbücher oder Bücher bekommen, sei für ihn wichtig. »Dass ein Kind, das aus der Ukraine geflohen ist, lacht, ist mein Lebenselixier.«

Mit raschen Schritten geht er in das Lager und beginnt, die Spenden thematisch zu sortieren. Er holt eingeschweißte Schlafsäcke aus einem Karton: »Diese wurden von einer alten Dame gespendet, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Polen nach Berlin kam. Sie war damals noch ein Kind, als sie fliehen musste. Es war ihr ein Bedürfnis, nun etwas zu tun.« In anderen Kartons liegen verschweißte spezielle Pflaster für Kinder, daneben sind Materialien für die Inhalation, dann Medikamente. Und in etlichen Kisten befinden sich Kleidungsstücke, die nach Größen sortiert werden sollen.

Seine Eltern hatten sich an der Uni in Tomsk in Russland kennengelernt und zogen später mit ihm auf die Krim. In den Ferien war er immer bei seiner Oma in Czernowitz. Mit ihr zusammen besuchte er die Synagoge und erinnert sich gerne daran, dass auf der Straße viel Jiddisch gesprochen wurde. »Ich liebe diese Stadt immer noch.« Als Jugendlicher kam er mit seinen Eltern nach Deutschland, zunächst nach Ahrensfelde. Nach der Schule absolvierte er eine kaufmännische Ausbildung und arbeitete später in Berlin-Ludwigsfelde bei einer Spedition.

»Dass ein Kind, das aus der Ukraine geflohen ist, lacht, ist mein Lebenselixier«, sagt Boris.

Im Jahr 2005 hat er sich dann selbstständig gemacht. Seine wichtigsten Handelspartner: Russland und die Ukraine. Daher ist die Frage, wie es mit der Firma weitergeht, ebenfalls ungewiss. »Ich würde mich über neue Kunden-Aufträge freuen, ebenso über Unterstützung, damit wir weiter sammeln und koordinieren können.«

LWIW Das Handy von Viacheslav klingelt. Am anderen Ende meldet sich der Sachbearbeiter einer Bank. Sie vereinbaren einen Termin für eine Kontoeröffnung für eine geflüchtete Frau. »Bitte kommen Sie mit und übersetzen Sie«, sagt der Bankangestellte. Denn Viacheslav kümmert sich auch um die Flüchtlinge in Berlin, von denen einige in das Lager kommen, um beim Sortieren und Verpacken mitzuhelfen. Der 43-Jährige hat zuletzt in Lwiw gelebt, bevor er wieder nach Deutschland kam, wo er schon früher viele Jahre gewohnt hatte.

»Schauen Sie mal«, sagt Boris und holt sein Handy aus der Tasche. Er zeigt die Dankesbriefe von den Menschen aus der Ukraine. Für ein Waisenhaus, das sich mit vielen Fotos von lächelnden Kindern bedankt, hatte er eine große Lieferung organisiert.

Mittlerweile treffen auch Oleksiy Berezin und Mykhailo Pruzhanskyi ein. »Womit sollen wir anfangen?«, fragen sie. Sie gehören auch zum festen Stamm der Freiwilligen, die regelmäßig vor Ort sind und mit anpacken. Es sei ihnen ein Bedürfnis, zu helfen.

TICKETS Zwei schlaksige Jugendliche schlendern herein. Illia und Kyrill sind beste Freunde und konnten gemeinsam vor ein paar Tagen fliehen. Viacheslav, der mit den Familien befreundet ist, hatte die Fahrt organisiert und die Tickets für sie gekauft. Kyrills Mutter ist in einer kleinen Stadt in der Nähe von Kiew zurückgeblieben. Mehr als 24 Stunden haben die beiden 17-Jährigen von Lwiw bis zur Grenze gebraucht, von wo der 43-Jährige sie abgeholt hat.

Mehrmals am Tag ging in ihrer Heimatstadt der Bombenalarm los, sodass sie immer in den Keller mussten. Dorthin kamen viele Menschen, und sie konnten sich unterhalten. »Aber wir waren alle so schockiert, und jeder stellt sich die Frage, wie es weitergehen mag. Werden wir überleben?« Mit ihren zurückgebliebenen Freunden sind sie noch in Kontakt. »Ständig wird geschossen, sie sind sehr ängstlich, haben nichts zu tun und können nur noch zu Hause herumsitzen und warten. Sie haben nur noch einen Gedanken: Werde ich morgen früh noch einmal aufwachen?«

Für die beiden sollen nun alle rechtlichen Fragen geregelt werden, darum werden sich Boris und Viacheslav kümmern. Die Tage könnten mehr als 24 Stunden haben, so viel haben sie zu tun. Und die Sorgen werden nicht weniger.

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