Frau Hartmann, seit vergangenem Jahr sind Sie Vorsitzende der Schulleiterkonferenz jüdischer Schulen im deutschsprachigen Raum. Womit beschäftigt sich die Konferenz?
Das ist ein sehr wertvolles Gremium. Wir treffen uns einmal jährlich und diskutieren über Themen, die uns alle betreffen, stellen Best-Practice-Beispiele vor und sprechen über Schwierigkeiten im Schulalltag. Ich nehme auch an den normalen, staatlichen Schulleiterkonferenzen teil – aber das ist nicht dasselbe.
Was ist an jüdischen Schulen anders?
Die jüdischen Schulen sind facettenreicher: Hier gibt es zum Beispiel mehr Förderkonzepte als an staatlichen Schulen. Durch unseren Gedanken- und Informationsaustausch können wir viel voneinander lernen und profitieren. Wir sammeln sogar Anregungen, was die schulische Raumgestaltung angeht – denn die Konferenz findet jedes Jahr an einer anderen Schule statt.
Was ist zum Beispiel ein konkretes Ergebnis Ihrer Treffen?
Wir haben etwa über die Vermittlung des Themas Schoa an der Schule gesprochen. Dabei haben wir festgestellt, wie wichtig Fortbildung dazu ist. Daraus ist dann eine einwöchige Studienreise nach Yad Vashem entstanden, die höchst lehrreich und einfach großartig war.
Derzeit gibt es in Deutschland zehn jüdische Schulen. Bei vielen stehen die Zeichen auf Expansion: Frankfurt plant, eine Oberstufe einzurichten, Düsseldorf hat schon vor zwei Jahren ein Gymnasium angekündigt, Hamburg will ebenfalls ausbauen, und München will im September 2016 ein jüdisches Gymnasium eröffnen. Wie ist der Stand der Dinge?
Wo die jeweiligen Planungen aktuell stehen, kann ich Ihnen im Einzelnen nicht sagen. Aber was alle Projekten sehr deutlich zeigen, ist in erster Linie eines: Die Koffer sind ausgepackt. 50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen, 70 Jahre Befreiung von Auschwitz, die ersten European Maccabi Games in Berlin – das jüdische Leben in Deutschland pulsiert. Eine jüdische Schule ist ein Stück Zuhause. Deshalb schicken viele unserer ehemaligen Schüler ihre Kinder auch an ihre alten Schulen. Eine jüdische Schule ist eine Insel der Werte, Aufmerksamkeit und Zuwendung.
Wie weit sind derzeit die Pläne in Frankfurt gediehen, über die neunte Klasse hinaus zu wachsen?
Wir befinden uns in intensiven Planungen. Wir haben bereits lange Gespräche über die Oberstufe geführt, unter anderem mit dem staatlichen Schulamt. Wir haben außerdem mit den Elternbeiräten gesprochen und mit Schülern. Zudem haben wir als operative Entscheidungsgrundlage für den Gemeindevorstand einen Elternfragebogen entworfen: Er wird zur Beantwortung an alle Gemeindemitglieder und an die Eltern von Lichtigfeld-Schülern geschickt. Darin bitten wir um anonyme Antworten, ob beispielsweise Interesse an der Oberstufe besteht, welche Leistungskurse gewünscht werden und ob G8 oder G9 favorisiert wird. Am 1. Oktober ist der Termin für die Rücksendung der Bögen.
Was bedeutet ein jüdisches Gymnasium für die Frankfurter Gemeinde?
Für die Frankfurter Gemeinde wäre das Ja zur gymnasialen Oberstufe eine historische Entscheidung, die viel Geld kosten wird. Aber ich bin zuversichtlich, dass es klappen wird.
Arbeiten die unterschiedlichen Schulen bei ihren Expansionsplänen zusammen?
Ja. Durch die Schulleiterkonferenz ist ein gutes Netzwerk mit einem regen Austausch entstanden. Wir halten manchmal auch bei Bewerbungen untereinander Rücksprache. Der Zentralrat hat uns eine Online-Plattform zum Austausch eingerichtet. Aber meist greifen wir noch zum Telefon.
Wie beurteilen Sie die Situation in Ostdeutschland: Dresden und Leipzig sind große Gemeinden. Fehlt es hier an einer jüdischen Schule?
Von dem, was ich weiß, lässt sich sagen, dass auch dort, wo noch keine jüdischen Schulen entstanden sind, die Gemeinden oft viele Angebote einrichten, etwa Sonntagsschulen und Religionsunterricht im Gemeindehaus oder an den staatlichen Schulen. Die Situation in den verschiedenen jüdischen Gemeinden variiert.
Woran liegt das?
Manchmal ist die demografische Struktur der Gemeinden so, dass es sehr wenige Kinder gibt und andere Herausforderungen dringender erscheinen. Alles braucht seine Zeit, um zu entstehen und zu gelingen.
Am Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn in Berlin sind von 420 Schülern 60 Prozent jüdisch. Wie ist das prozentuale Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Schülern in Frankfurt?
Bei uns haben knapp 80 Prozent der Kinder mindestens ein Elternteil, das Mitglied in der Gemeinde ist.
Warum wollen so viele nichtjüdische Familien an die Schule?
Die Kinder sind behütet, das Niveau ist hoch. In einer Gesellschaft, in der alles immer anonymer wird, zählt das Persönliche. Die Eltern wünschen sich keine fabrikmäßige Bildung.
Wenn Sie die Situation der jüdischen Schulen in Deutschland mit der in der Schweiz oder Österreich vergleichen: Was ist in Deutschland anders?
In Wien fand ich es interessant, wie Grund- und weiterführende Schule räumlich miteinander verbunden sind und welche Wirkung das auf das Kollegium hat. Toll fand ich, dass die Schule eine eigene Krankenschwester beschäftigt. Sie spricht mit den Kindern auch über die verschiedensten Themen der gesundheitlichen Vorsorge. In der Schweiz war es spannend, wie Bnei Akiwa, der religiös zionistische Jugendverband, in der Schule agiert. Das ist alles sehr anregend.
Die nächste Schulleiterkonferenz findet Ende Februar 2016 statt. Welche Themen werden Sie diskutieren?
Wir haben eine Reihe von Themen, die für die Entwicklung der einzelnen Schulen wichtig sind. Hin und wieder laden wir auch Gäste zu Vorträgen ein. Zu den vordringlichsten Themen gehört das Fach Religion: In manchen Bundesländern ist das Fach Religion Pflicht, und in manchen anderen, etwa in Berlin, ist es eher Ethik. Wir sind staatlich anerkannte Schulen und obliegen daher den Anforderungen der jeweiligen Bildungsministerien in den verschiedenen Bundesländern.
Was wünschen Sie sich für das Fach Religion?
Wir sollten uns annähern und ein gemeinsames Religionsschulbuch nach den aktuellen Kompetenz- und Bildungsstandards haben – und zwar von der Primarstufe an. Wir brauchen ein echtes Lehrwerk.
Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es zwischen den jüdischen Schulen beim Hebräischunterricht?
Das ist ein weiteres großes Thema. Beim Iwritunterricht unterscheiden wir uns in der Anzahl der Wochenstunden, in den Vorkenntnissen der Kinder, in der Struktur der jeweiligen Gemeinden und dem Elternwunsch bezüglich der hebräischen Sprache.
Wie kommen die verschiedenen Schulen da zusammen?
Ich denke, dass beim Iwritunterricht jede Schule ihren eigenen Weg finden muss. In Einheitsgemeinden wie etwa in Frankfurt wollen die Eltern meist, dass praktisches Iwrit unterrichtet wird, sodass man sich zum Beispiel ein Eis bestellen oder sich in Israel zurechtfinden kann. In der Schweiz hingegen leben sehr viele Hebräisch-Muttersprachler – dort ist wiederum ein anderer Unterricht vonnöten.
Mit der Leiterin der Lichtigfeld-Schule in Frankfurt sprach Rivka Kibel.