Eilig läuft Svetlana Tchetchelnitskaja durch das Theater in Delmenhorst. Gerade ist der Hamburger Chor »Klezmerlech« mit seiner dazugehörigen Tanzgruppe eingetroffen. Die dunkelhaarige Frau geht mit der Gruppe zu den Künstlergarderoben. Schilder mit den Aufschriften »Oldenburg« und »Hamburg« hängen hier an der Tür.
Die lange Spiegelreihe in der Künstlergarderobe gehört jetzt den Damen in weißen Röcken und blau-weiß gestreiften Blusen. Zum 15. norddeutschen Festival der Jüdischen Musik hat die Gemeinde Delmenhorst eingeladen. Aus Hamburg, Hannover, Osnabrück und Oldenburg sowie aus Magdeburg und Cottbus kommen Chöre und Tanzgruppen zusammen.
Programm In den letzten Tagen vor dem Festival hatte die gebürtige Moskauerin neben den Proben mit dem Ensemble »Shalom« aus Delmenhorst noch alle Hände voll zu tun: das Programmheft in den Druck geben, das Catering für die über 100 Mitwirkenden organisieren und viele Telefonate mit den anreisenden Gruppen führen.
Der musikalische Austausch und das Zusammentreffen mit den anderen Gemeinden ist auch dem ersten Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Delmenhorst, Pedro Becerra, sehr wichtig: »Es ist eine große Ehre, dass wir nach Hamburg, Hannover und Oldenburg Gastgeber sein dürfen. Vor allem in diesem Jahr: 70 Jahre nach Kriegsende.« Der Titel des Festivals lautet dann auch »70 Jahre nach Kriegsende – ein Gesang für den Frieden«.
Auch im benachbarten Oldenburg wird kurz vor dem Festival jeder arbeitsfreie Tag, den der hiesige Kalender außerhalb des Wochenendes zu bieten hat, für die Vorbereitung genutzt. Die musikalischen Programmpunkte aus ihren beiden Gemeinden Delmenhorst und Oldenburg hat Rabbinerin Alina Treiger fest im Blick. Für »Avinu schebaschamaim«, das alle sechs Chöre gemeinsam singen sollen, widmet sie sich ihren Solisten aus den beiden Städten.
Das Geschwisterpaar Yael (7) und Noah Rohde (5) aus Delmenhorst kommt regelmäßig mit dem Oldenburger Chor »Kol haNeschama« zusammen. Denn die beiden geben als Gitarrist und Solistin den musikalischen Rahmen für dieses Stück und gehören zu den jüngsten Teilnehmern des Festivals. »Ich freue mich, dass außer den beiden auch viele andere junge Stimmen in unserem Chor mitmachen«, sagt Alina Treiger.
Proben Und das macht auch deutlich, wie lebhaft es jetzt nach den vielen konzentrierten Proben beim Festival zugeht. Jael und Noah spähen vorsichtig durch den Vorhang. Die zehnjährige Merle tanzt mit dem Puppenspieler Lew Mirkin und seiner Rabbiner-Handpuppe gleich neben dem Pult des Bühnentechnikers. »Sonst ist das Warten auf den Auftritt doch ganz schön lang«, sagt sie. Der Babuschka-Generation zaubert das ein Lächeln ins Gesicht.
Nicht nur die Darbietung der Kinder begeistert das Publikum dieses Chorfestivals bis hin zu Standing Ovations, auch die 91-jährige Sängerin Assja Abramova aus Delmenhorst bringt das Theater zum Jubeln. In glitzernder Abendrobe kommt sie auf einen Stock gestützt auf die Bühne. Ihre Stimme jedoch lässt bei den Liedern »Mazel« und »Jiddische Mamme« ihr Alter und ihre körperliche Gebrechlichkeit vergessen.
Vielleicht auch deshalb, weil sie mit ihrer Mimik ganz in den Stücken aufgeht. Ihre Professionalität in Stimme und Ausdruck lasse erahnen, wie viel auch der Chor in Delmenhorst ihr als langjähriger Leiterin zu verdanken hat.
Altersspanne Genauso weit gefasst wie die Altersspanne der Mitwirkenden sind auch die Festivalbeiträge. Von gesungenen Psalmen bis hin zum Siegertitel des Eurovision Song Contest von 1979 »Hallelujah« reicht das Spektrum. Auch die Beiträge der Tanzgruppen schlagen mühelos die Brücke zwischen Klezmer und Popmusik.
In der Pause bekommen die Zuschauer dann auch eine Tanzeinführung und geraten aus der Puste. »Ich mag die Lebendigkeit von Musik und Bewegung«, sagt eine Zuschauerin. »Es ist beachtlich, wie fit auch die älteren Tänzerinnen und Tänzer sind. Ich komme dabei schon außer Atem.«
Vielen Teilnehmern wird nach dem Festival klar, dass weit mehr als nur die künstlerischen Fähigkeiten den Charme dieser Veranstaltung ausmachen. Hier entsteht ein Lebensgefühl – hinter den Kulissen. »Die Kinder lernen die jiddischen Lieder der älteren Generation. Hier treffen sie noch die Frauen und Männer, die diese Sprache kennen und beherrschen. Das ist eine Chance für sie«, sagt eine Teilnehmerin.
Sprachengemisch Das Sprachengemisch aus Russisch, Deutsch, Hebräisch und Jiddisch auf, vor und hinter der Bühne zeigt, wie viele Menschen aus unterschiedlichsten Ländern mit der jüdischen Kultur als Universalsprache in den jüdischen Gemeinden von Norddeutschland leben. Mit den Klängen im Ohr und auf den Lippen machen sich die angereisten Gruppen nach dem Konzert auf den Weg zur Omnibushaltestelle.
Die Delmenhorster bleiben zum Aufräumen im Theater zurück und können sich ein Lächeln nicht verkneifen, als alle Autos warten müssen, bis die auswärtigen Teilnehmer in den Bus eingestiegen sind. Ein besonderer Moment: endlich einmal eine jüdische Mehrheit in einem Delmenhorster Linienbus.