Ich habe zwei Geburtstage. Einer ist diese Woche. Vor 65 Jahren lag ich bei den Leichen, weil ich nicht mehr atmete. Als mir ein Pater die letzte Ölung geben wollte, habe ich die Augen aufgeschlagen und gesagt: »Nicht taufen, ich bin Jude.« Das war am 28. April 1945. Deshalb feiere ich an diesem Tag Geburtstag und denke daran, dass der Herrgott mich dagelassen hat. Als die Amerikaner das Außenlager Ganacker des KZs Flossenbürg erreichten, hatten die flüchtenden SS-Mannschaften mich einfach liegen lassen, weil sie mich für tot hielten. Ich war damals 19 Jahre alt und wog 29 Kilo. Der Pater hat mich aufgepäppelt und mir zu meinem zweiten Leben verholfen. Geboren wurde ich am 20. Juli 1925 – mein anderer Geburtstag.
Heute bin ich in Straubing so sehr daheim, dass ich denke wie ein Bayer. Ich bin ein bayerischer Patriot und fühle weiß-blau. Als ich noch im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland saß, haben die norddeutschen Kollegen immer gescherzt: »Zieht dem Bayern die Lederhosen aus!« Ich habe mit gescherzt, denn ohne Humor kann man nicht leben. Es ist traurig, wenn man sich nicht selbst auf die Schippe nehmen kann. Juden sind immer auch humorvoll. Wenn die Zeit da ist, sich ernst zu nehmen, nimmt man sich ernst, und wenn die Zeit für Humor da ist, scherzt man. Es muss nur alles gut platziert sein.
Auf Fragen meiner Kinder nach der in meinen Arm tätowierten Nummer aus dem Konzentrationslager habe ich immer geantwortet: »Das ist die Telefonnummer meiner Freundin.« Kein Scherz, sondern eine Notlüge, denn ich wollte meine Kinder nicht vergiften mit meinen Erinnerungen an das Grauen der Konzentrationslager. Ich habe ihnen, als sie klein waren, nichts darüber erzählt, was ich in Auschwitz, Birkenau, Sachsenhausen oder Dachau erlebt habe, doch ich selbst trage das Grauen immer mit mir. Ich denke immer daran, Tag und Nacht. Mit dem Alter wird es immer schlimmer, denn da kommt das Langzeitgedächtnis. Dass ich mit Schlaftabletten ins Bett gehe, ist seit 20 Jahren Normalität für mich.
Kämpfer Ich bin gesegnet mit vier Kindern und sieben Enkeln und hoffe, dass der Herrgott mir bald auch ein Urenkelkind schenkt. Meine Lebensaufgabe ist die Gemeinde hier in Straubing, und das seit 30 Jahren. Ich habe die Konzentrationslager überlebt, weil mich der Herrgott bei der Hand führte und wollte, dass ich in Palästina in den Befreiungskriegen kämpfe, dass ich die Gemeinde leite, die Synagoge restauriere und für das christlich-jüdische Zusammenleben arbeite.
Jeden Tag bin ich im Büro der Gemeinde Ansprechpartner für die 900 Mitglieder. Da ich im polnischen Tschenstochau geboren bin und Polnisch und Ukrainisch einander sehr ähnlich sind, kann ich mit vielen Zuwanderern ohne Dolmetscher sprechen und ihnen helfen. Wir haben aber auch Schwierigkeiten mit den Kontingentflüchtlingen. Im Lauf der Zeit kommen immer weniger von ihnen in die Synagoge. Erst kürzlich habe ich in der Gemeindezeitung gefragt, ob sie Gott denn nicht mehr bräuchten. Sie assimilieren sich und vergessen, dass sie Juden sind. Ich erhebe mahnend den Finger und erinnere sie, dass sie gekommen sind, um die Synagogen aufzufüllen und das Judentum in Deutschland weiterzuführen.
Tragödie Obwohl die Gemeinde 900 Mitglieder hat, müssen wir oft lange warten, bis zehn Männer für den Minjan in die Synagoge kommen. Das habe ich mir anders vorgestellt. Ich habe früher oft vom Wunder von Straubing gesprochen, als kurz nach der Zuwanderung wieder Kinderlachen durch die Synagoge schallte. Mittlerweile treten Kontingentflüchtlinge zum russisch-orthodoxen Glauben über und vergessen, dass sie als Juden nach Deutschland gekommen sind. Für mich ist das eine Tragödie. Deswegen bin ich noch da, und Gott gibt mir die Kraft, dass ich die Gemeinde mit Elan führe, nicht resigniere und nachlasse, denn ich bin ein Kämpfer.
1947 wollte ich nach Palästina. Von Marseille aus bin ich mit vielen anderen auf einem Seelenverkäufer Richtung Osten gesegelt. Ein britisches Schiff entdeckte uns, und wir dachten schon, jetzt sei alles aus. Aber das Schiff hatte einen Motorschaden und konnte uns nicht schnappen und so sind wir nach Palästina gekommen. Ich bin freiwillig zur Armee gegangen und habe den Befreiungskrieg mitgemacht, wurde zweimal verwundet. Doch dann zog es mich der Liebe wegen wieder nach Straubing.
Meine ungarische Freundin hatte mir versprochen, sie werde dort auf mich warten. Sie hatte zwar mittlerweile einen amerikanischen Leutnant geheiratet, aber ich war wieder zurück in Straubing. Da habe ich dann die große Liebe meines Lebens kennengelernt, meine Frau Inge. Sie war Bedienung im Café Mariandl, und ich bin zum Essen dorthin gegangen, weil mir die Wirtin so imponiert hat. Ihr Mann war bei der SS gewesen, aber sie hat gesagt: »Die Juden, die sind unser Lebenselixier.« Meiner Ingeborg aber konnte ich armer Tropf nichts bieten. Sie hat dagegen mich zum Essen eingeladen, und irgendwann habe ich ihr meine Geschichte erzählt, auch davon, dass meine Eltern und vier Geschwister in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Da hat sie Rotz und Wasser geweint und mir erzählt, dass ihr Vater in französischer Gefangenschaft verhungert und ihre Mutter aus Gram darüber gestorben war. Da saßen wir beiden Waisenkinder und fanden, wir passen zusammen.
Heirat Ich habe zu ihr gesagt: »Ich wohne in einem Schloss«, denn ich hatte ein Zimmer in der Synagoge, und nachts schaut die Synagoge wie ein Schloss aus. Ich hab Inge mitgenommen, und sie hat meine Bude aufgeräumt und ich dachte: »Die Frau kann man heiraten.« Als sie dann auch noch meine dreckige Wäsche gewaschen hat, dachte ich: »Die wird geheiratet.« Das Problem war dann die Konversion. Ich stamme aus einer orthodoxen Familie und wollte, dass meine Frau Jüdin ist. Also bin ich nach München zum Rabbiner gefahren und habe gesagt: »Meine Frau ist in anderen Umständen, und ich will nicht, dass mein Kind unehelich zur Welt kommt.« Er hat gesagt: »Nein, das kann ich nicht einfach so machen.« Da habe ich ihm meine Papiere aus Israel hingelegt und gesagt: »Wenn du nicht willst, werde ich katholisch.« So habe ich ihn erpresst, und er hat meiner Frau in sehr kurzer Zeit zum Übertritt verholfen. Aus Inge wurde Esther, und so ist meine Tochter Hannah als Jüdin auf die Welt gekommen. Wir haben immer noch in dem Zimmer in der Synagoge gewohnt, und als wir den ersten Gasherd bekamen, war das für uns wie ein Rolls-Royce.
Heute ist dieses Zimmer mein Büro, und nicht nur hier denke ich täglich an meine geliebte verstorbene Frau. Auch beim Essen denke ich immer an sie, denn sie war die beste Köchin der Welt. Meine Tochter, die jetzt für mich sorgt, ist die halbbeste Köchin. Ich habe so viel gehungert, dass Essen heute meine Schwäche ist. Jeder Mensch hat seine Schwächen. Einer trinkt zu viel, einer isst zuviel. Und ich esse eben gerne, am liebsten Hühnchen.
Jeden Tag, wenn ich zur Synagoge gehe, bete ich: »Herrgott, lass nicht zu, dass sie mit Schmierereien beschmutzt ist.« Vor ein paar Jahren war die Erinnerungstafel an die Synagogeneinweihung 1907 mit einem Hakenkreuz beschmiert. Ich halte das für einen Jugendstreich, aber Angst ist mein ständiger Begleiter, weil ich so viel mitgemacht habe. Grund zur Besorgnis gibt es genug, doch wird viel getan in Deutschland, um die Leute aufzuklären, und ich bin sehr zufrieden mit der Demokratie heute. Deutschland ist der größte Freund Israels und der größte Freund der Juden in der ganzen Welt. Das ist kein Kompliment, sondern eine Tatsache.
Mein Ziel ist bis heute, dass Nachbarn in Frieden miteinander leben. Ich gehe gern in christliche Kirchen, beispielsweise in die prachtvolle Ursulinen-Kirche in Straubing. Dort habe ich sogar schon Psalmen vorgetragen, und die ganze Kirche war sehr ergriffen. Der Herrgott ist überall, in der Synagoge, der Kirche oder der Moschee. Es geht sowieso darum, den Herrgott im Herzen zu tragen. Wer Gott im Herzen trägt, ist ein anständiger Mensch.
Aufgezeichnet von Birgit Fürst