Frau Schuchardt, Sie sind 67. Haben Ihnen Freunde, Nachbarn oder Ihre Kinder angeboten, wegen der Corona-Krise für Sie einkaufen zu gehen?
Persönlich habe ich diese Diskussion nicht geführt. Aber über WhatsApp-Gruppen bekomme ich immer wieder mit, dass solche Angebote gemacht werden.
Auch in guten Freundschaften gibt es zurzeit hitzige Diskussionen, wenn etwa eine 80-jährige Frau sagt: »Kommt gar nicht infrage, dass jemand für mich einkauft.« Können Sie diese Haltung nachvollziehen?
Das kann ich sehr gut verstehen, und ich würde genauso reagieren, wenn ich in der Lage wäre, meine Füße in einen Laden zu bewegen. Auch der Gerontopsychiater Johannes Pantel aus Frankfurt am Main erzählt zum Beispiel, dass seine eigenen Eltern es abgelehnt haben, dass die Söhne für sie einkaufen. Die Leute sagen: Wir sind geistig fit, wir schaffen das, und wir möchten nicht bevormundet werden. Ich bin der Meinung, dass man die Freiheitsrechte eines alten Menschen nicht gegen seinen Willen einschränken darf. Die Mehrheit der älteren Menschen ist nicht dement und in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen. Und wenn man alte Menschen bewusst isoliert, was ja bereits diskutiert wurde, dann sind die psychischen Folgen nicht absehbar.
Gerade für Kinder ist die Kontaktsperre wegen der Corona-Krise belastend. Einzelkinder sehen seit Wochen keine Gleichaltrigen. Was könnte der Beitrag älterer Menschen zur Generationensolidarität sein?
Es gibt nicht »die Älteren«. Die Älteren sind so unterschiedlich wie die Jüngeren. Ein Viertel der Bevölkerung wird als alt, schutzbedürftig und wehrlos dargestellt. Dabei gibt es auch viele Übergewichtige und Diabetiker unter 60 Jahren, die zur Risikogruppe gehören. Es stimmt einfach nicht, dass Menschen von 60 bis 100 per se rücksichtslos, uneinsichtig und unverantwortlich sind, so wie sie jetzt oft dargestellt werden.
Aber was können die Älteren konkret tun?
Ich wäre dafür, dass man Eltern viel mehr unterstützt und dass die Kinder wenigstens ihre engen Freunde besuchen dürfen. Oder dass den Eltern erlaubt wird, sich bei der Betreuung abzuwechseln. Die Kinder dürfen derzeit nicht auf den Spielplatz, sie dürfen nicht zu ihren Verwandten, sie dürfen eigentlich gar nichts. Sie haben nur noch ihre Eltern, und das ist für beide Seiten eine unerträgliche Situation.
Sie sind selbst Großmutter. Wie funktioniert jetzt bei Ihnen der Kontakt?
Der größte Teil meiner Enkel ist nicht in Berlin, und ich kann sie derzeit nicht besuchen. Ich telefoniere mit ihnen und schicke regelmäßig Pakete. Ich habe auch Kinder in Berlin, aber sie haben mich in der Corona-Zeit gemieden.
Wie gehen Sie damit um?
Ich finde das verantwortungsvoll und kann das anerkennen. Ich habe Treffen auch nicht eingefordert. Ich musste aber bei dieser Gelegenheit feststellen, dass ich mich zunächst stigmatisiert gefühlt habe, nach dem Motto: »Du gehörst jetzt in die Risikogruppe.« Aber natürlich ist unbestritten, dass ältere Menschen weniger Abwehrkräfte haben. Das muss ich einfach akzeptieren, und wegen des allgemeinen gesellschaftlichen Gruppendrucks habe ich auch nicht aufbegehrt.
Sind Sie einfach traurig, dass Sie die Kinder nicht treffen können?
Absolut. Und die Kinder sind auch traurig. Sie fragen mich ständig: Wann besuchst du uns wieder, wann können wir wieder zu dir kommen? Das ist ein Opfer, das von beiden Seiten gebracht wird.
Mit der Berliner Psychologin sprach Ayala Goldmann.