Ein rührender, festlicher Moment mitten auf der Straße Heiliger Weg: Die Dortmunder Gemeinde tanzt, singt und spielt jüdische Musik auf dem Weg in die Synagoge. Im Mittelpunkt steht die neue Tora. Und der Gedanke: Jüdisches Leben in Deutschland ist wieder sichtbar.
»Wie geht es denn deinem Kind?«, fragt Daria Gerstein ihren Bekannten Alexander Kurakins. Und just in diesem Moment biegen seine Frau Maija und Großmutter Edja Karakina um die Ecke. Die Tochter Ilana Gila ist natürlich mit dabei. Sie sitzt vorne im Kinderwagen und beobachtet alles aufmerksam. Und obwohl sie erst 23 Monate alt ist, spürt sie vielleicht, dass heute ein besonderer Tag für die jüdische Gemeinde ist. Es ist der 18. Ijar 5774 und damit Lag BaOmer, aber auch der Tag der Einweihung der neuen Tora.
Und damit nicht nur die Gemeinde, sondern auch die Bürger Dortmunds diese Freudenfeier miterleben können, wurde die Torarolle vom Wasserturm am alten Südbahnhof, von dem einst die Deportationszüge abfuhren, über eine Hauptstraße zur Synagoge gebracht.
strassensperrung Der Heilige Weg wurde dafür extra gesperrt, sodass mehr als 200 Menschen tanzend, singend und lachend die neue Tora feiern konnten: Großeltern mit ihren Enkeln an der Hand, junge Familien, Jugendliche, die mit ihren Handys spielten, Mütter und Väter, die ihre Kleinkinder in der Menge im Auge behielten. Für dieses Erlebnis ist Daria Gestein extra aus Bonn angereist: »Bisher habe ich das immer verpasst. Es ist wirklich eine einmalige Gelegenheit«, sagt die 33-Jährige.
Rabbiner Avichai Apel vergleicht den Neuzugang einer Torarolle sogar mit einer Geburt: »Eine neue Torarolle bedeutet neues Leben. Es ist wie ein neues Familienmitglied, das in die Gemeinde eingeführt wird. Und das ist ein schöner Grund zu feiern.«
pergament Der Grund der Neuanschaffung ist aber auch ganz pragmatisch. Viele Rollen in Deutschland stammen aus der Zeit vor der Schoa. Sie wurden versteckt und anschließend wieder in die Gemeinden zurückgeführt. Doch die handgeschriebenen Pergamentrollen mit Buchstaben aus Tinte sind sehr empfindlich. Bei häufiger Benutzung kann man irgendwann die Buchstaben kaum noch lesen. Sie verblassen. »Natürlich kann man alte Rollen reparieren, aber das geht auch nur bis zu einem bestimmten Grad«, erklärt Apel. Daher sammelte die Gemeinde Spenden aus ihren eigenen Reihen. Ganze 25.000 Euro mussten aufgebracht werden.
Neben der Familie Pustilnik, die einen großen Betrag zur Vefügung stellte, haben auch die Karakins gespendet. »Wir sind sehr froh, dass wir das aus eigener Kraft finanzieren konnten«, meint die 32-jährige Maija Karakins. »Diese Gemeinde hier ist schon etwas Besonderes: Sie hat eine Strahlkraft und Zukunft, vor allem für junge Familien. Wir sind extra aus Essen hergezogen. Und wir sind nicht die Einzigen.« Auch Großmutter Edja Karakina ist an diesem Tag sehr glücklich: »Früher in der Sowjetunion mussten wir unsere Religion immer verstecken. Alles passierte hinter verschlossenen Türen. Heute stehen wir hier mitten auf der Straße. Sichtbar. Dafür finde ich keine Worte.«
Tanz Von Verschlossenheit und Versteckspielen ist heute nichts zu spüren. Im Gegenteil: »Kommt, tanzt! Die Straße ist nur für uns da!«, animiert die 16-jährige Ilayda Serhat ihre Freundinnen. Denn viele Worte braucht es nicht. Es gibt zahlreiche Lieder und Melodien, die alle verbinden und, trotz der 22 Grad bei blauem Himmel, Gänsehaut hervorrufen. »Ich finde es total schön, dass wir heute so offen sein können. Wir zeigen einfach: Wir sind da. Und das ist für jüdische Menschen nicht in jedem Land möglich«, sagt Ilayda, »zum Beispiel in der Türkei, wo ich selbst herkomme. Deswegen versuche ich, alle mitzureißen.«
Ein bewegendes Bild: Die ganze Gemeinde läuft langsam die Hauptstraße entlang. Vorne tanzen die Kinder, Mädchen und Jungen, hinter ihnen die Männer mit der Tora. Alle singen die Hava Nagila mit. Die Klarinette erklingt in ihren freudigsten Tönen, die Trommel bringt den Rhythmus und das Akkordeon die Tiefe. Das lockt die Nachbarn an die Fenster. Sie schauen zu und freuen sich. Manche greifen sofort zur Handykamera. Denn wie oft sieht man schon, wie die eine oder andere Kippa trotz Haarklammer den Halt verliert?
Am Straßenrand bleiben Passanten verwundert stehen. »Wir wollten eigentlich nur kurz an die Tankstelle, und dann haben wir den Menschenzug gesehen«, verrät Malgorzata Misiak. Zusammen mit ihrem Ehemann Ireneosz beobachten sie aus einiger Distanz, wie die Tora gefeiert wird. »Leider habe ich keine Fotokamera dabei. Das würde ich wirklich gerne meinen Freunden zeigen«, sagt Malgorzata.
Stolz Avichai Apel hat sein Ziel erreicht: zu zeigen, dass jüdisches Leben in Dortmund wieder möglich ist. »Jeder Mensch sucht nach Bedeutung in seinem Leben. Heute können wir wieder stolz sein auf unsere jüdische Identität. Genau wie die Torarollen, die endlich aus ihren Verstecken befreit sind, brauchen auch wir uns nicht mehr zu verstecken«, sagt der Dortmunder Rabbiner.