Um Worte ist Moritz Neumann nie verlegen. Er kann unterhaltsamer Charmeur sein, mitreißender Erzähler – und beißend scharfzüngiger Kritiker. Wer sich seinen Unmut zuzieht, muss auf Klartext gefasst sein. Denn eines ist der Vorsitzende des Jüdischen Landesverbandes Hessen nicht: Er ist kein Mann, der seine Worte der Diplomatie unterordnet, oder einer, der sich verbiegt, anderen nach dem Mund redet oder Auseinandersetzungen scheut. Neumann ist eine Art Klassiker: Der Prototyp des Quergeistes, des unbequemen Mahners – von denen es heute immer weniger gibt.
Am Wochenende feierte er Geburtstag. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Darmstadt ist 65 Jahre alt geworden. Bei der Frage, was er in seinem Leben noch nicht gemacht hat, müsste er vermutlich länger überlegen. Er war Journalist bei mehreren Tageszeitungen, unter anderem der Frankfurter Rundschau und dem Darmstädter Echo. Neumann hat auch für die Jüdische Allgemeine geschrieben.
Einmal im Monat spricht er für die Sendung Aus der jüdischen Welt Beiträge für den Hessischen Rundfunk. Er hat Bücher geschrieben, Filme vertont. Er war Musiker, Akkordeonspieler, sogar erfolgreich. Seine Band »Dif-Simches« spielte Folklore und tingelte in den 80er-Jahren als damals einzige jüdische Combo durch ganz Deutschland. Mit seinem Sinn für sarkastischen Humor stand Neumann auch als Ansager auf der Bühne und erzählte jüdische Witze.
Magistrat Für die SPD saß er viele Jahre ehrenamtlich im Darmstädter Stadtrat. Er trat zu Willy-Brandt-Zeiten in die Partei ein, betont aber, dass er sich nie politisch vereinnahmen oder disziplinieren ließ. Der damalige Oberbürgermeister Peter Benz (SPD) holte ihn als »moralisches Gewissen« in die Magistratsmannschaft, und auch seinen Parteifreunden geht er gnadenlos auf die Nerven, wenn er es für nötig hält.
1985 folgte er dem Ruf seines Mentors Max Willner und kam als Geschäftsführer zum Jüdischen Landesverband Hessen, seit 1994 ist er dessen Vorsitzender. Inzwischen muss er aus gesundheitlichen Gründen jedoch etwas kürzer treten. Seit 1991 ist er Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Darmstadt, die in seiner Zeit auf rund 800 Mitglieder angewachsen ist.
Es sind vor allem russischsprachige Juden, die in den vergangenen 20 Jahren in die Gemeinde geströmt sind und denen Neumann Hilfe sein will im deutschen Alltag und im oftmals kaum vertrauten jüdischen Leben. Neumann ist Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden und leitet dort den Finanzausschuss seit vielen Jahren.
Bundesverdienstkreuz Er sitzt aber auch im Rundfunkrat des Hessischen Rundfunks und war viele Jahre ebenso Mitglied im Rundfunkrat des deutsch-französischen Kulturkanals Arte. »Was meiner französischen Nebenader entgegenkam«, lacht der 65-Jährige, der mit seiner Familie auch ein Ferienhäuschen in Frankreich besitzt. Für all diese Ehrenämter verlieh ihm das Land Hessen 2007 das Bundesverdienstkreuz. Recht war ihm das nicht: »Die haben Alt-Nazis schließlich auch bekommen«, sagt er. Aber eben auch Personen wie Steven Spielberg und Loriot. Das hat ihn versöhnt und er hat die Ehrung angenommen.
Neumann ist das Kind zweier Schoa-Überlebender. Seine Mutter Frania war in Auschwitz, sein Vater Hans, ein in Breslau geborener jüdischer Sozialdemokrat, floh vor den Nazis durch halb Europa bis in die französische Fremdenlegion. Mit General Charles de Gaulle zog er 1945 in Paris ein. Dem Schicksal des Vaters spürte Neumann akribisch in Archiven nach und schrieb darüber den biografischen Roman Im Zweifel nach Deutschland.
Seine Eltern kehrten nach dem Krieg ins »Land der Täter« zurück, obwohl sie eigentlich nach Australien oder in die USA auswandern wollten. Doch wegen der Herzerkrankung des Vaters blieb ihnen die Einreise verwehrt. Hier gründeten Moritz Neumanns Eltern eine der ersten jüdischen Gemeinden in Deutschland. In Fulda wurde auch Moritz Neumann geboren. Von seinen Eltern hat der 65-Jährige das Kämpferische gelernt. »Trau dich, deine Meinung zu sagen« war ihre Maxime. »Ich wurde zum Widerspruch erzogen und dass wir uns nicht dafür verstecken, Juden zu sein«, sagt er. Seine Mutter Frania war eine der Schoa-Überlebenden, die über das Grauen in Auschwitz nicht geschwiegen hat.
Reden »Sie musste darüber reden«, erinnert sich der Sohn. Auch wenn er diese Berichte als Kind nicht hören wollte, »geprägt haben sie mich«. Und auch seine Kinder. Den Widerspruch, zu dem er erzogen wurde, hat Moritz Neumann bei seinen Eltern nie ausgelebt. »Ich habe nicht gegen meine Eltern revoltiert. Ich hatte keinen Grund dazu, und ich wollte auch die Menschen nicht verletzen, die so viel schon gelitten hatten.« Er erinnert sich an ein sehr enges Familienleben. »Es gab nur uns. Wir waren eine Art Dreier-Zelle.«
Das war auch der Grund, dass er einen seiner Träume nicht verwirklichte: die Ausreise nach Israel. Mit 14 Jahren fuhr er mit einer Jugendgruppe in einen Kibbuz. »Ich kam heim in der festen Überzeugung, da gehe ich jetzt hin.« Seine Familie war dem zionistischen Gedanken verbunden. Neumanns Mutter war als junge Frau vor dem Krieg Mitglied in einer zionistischen Organisation. Doch sie selbst ist später nie nach Israel gereist. Aus gesundheitlichen Gründen. Nach dem frühen Tod des Vaters wollte Moritz Neumann seine Mutter nicht allein in Deutschland zurücklassen. »Es gab ja außer mir niemanden«, sagt er.
Neumanns Geburt und die Geburtsstunde des Staates Israel fallen in das gleiche Jahr. »Ich war einen Monat früher«, scherzt Neumann. Seinen Traum vom Kibbuz hat er mit zahlreichen Reisen ins Land kompensiert. In Darmstadt hat er Wurzeln geschlagen, hat eine Familie mit drei Kindern und sechs Enkeln gegründet. Als Kind von Schoa-Überlebenden wuchs er ohne Tanten, Onkel oder Cousinen auf. »Ich habe mir immer eine große Familie gewünscht«, sagt er.