Während am Montag vor dem Gemeindehaus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin Siebtklässler des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn laut die Namen der 55.696 ermordeten Berliner Juden lasen, trafen sich drinnen in der Bibliothek etwa 40 Schoa-Überlebende aus ganz Deutschland, die in den 90er-Jahren als sogenannte Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen waren.
Die Bundesassoziation »Phönix aus der Asche e.V.« hatte anlässlich ihres zehnjährigen Bestehens zu einer Konferenz mit dem Titel »Leben der Holocaustüberlebenden aus den postsowjetischen Staaten in der Bundesrepublik: Probleme, Diskussionen und Entscheidungen« eingeladen.
jom haschoa Es war kein Zufall, dass der Verein, der sich seit seiner Gründung 2007 für die Belange von Schoa-Überlebenden einsetzt, für seine Tagung Jom Haschoa gewählt hatte, den Holocaust-Gedenktag. Denn auch 25 Jahre nach ihrer Zuwanderung nach Deutschland ist die Lebenssituation vieler Überlebender prekär.
Da die Bundesrepublik sie nicht als NS-Verfolgte anerkennt, steht ihnen keine Rente, sondern lediglich Sozialhilfe in Form von Grundsicherung zu, die jährlich neu beantragt werden muss. Mit diesem Status gehe eine Stigmatisierung einher, kritisierte Vereinspräsident Alexej Heistver in seinem Bericht, die die etwa 600 Betroffenen nicht nur in ihren Menschenrechten und ihrer Bewegungsfreiheit einschränke, sondern ihnen »ein würdevolles Leben im Alter« unmöglich mache.
Mit der Konferenz will »Phönix« dem Thema in Politik und Gesellschaft Gehör verschaffen. Heistver und seine Mitstreiter kämpfen seit Jahren um die Anerkennung der postsowjetischen Schoa-Überlebenden als NS-Verfolgte und eine damit einhergehende Verbesserung ihrer sozialrechtlichen Stellung, darunter mit zahlreichen Anträgen an Bundesrat und Bundestag. Dass die Bundesregierung bislang keine Veränderung bezüglich des Status signalisiert, empfinden viele Phönix-Mitglieder als enttäuschend und bitter.
grundsicherung »Ich habe 37 Jahre lang als Chirurg gearbeitet, seit 15 Jahren lebe ich in Deutschland – doch vom deutschen Rentensystem bin ich ausgeschlossen«, sagt Felix Lipski. Sogar die Kosten für die Fahrt zur Konferenz werden ihm von der Grundsicherung abgezogen – eine alltägliche entwürdigende Erfahrung, die die meisten der Teilnehmer teilen.
Wie Lipski hat jeder von ihnen die Schoa unter grausamen Bedingungen im Ghetto, im Versteck oder bei den Partisanen überlebt. Viele von ihnen verloren als Kinder oder Jugendliche ihre Familien bei Massenerschießungen in der Ukraine, in Weißrussland, Moldawien, im Baltikum.
Mit Unterstützung des Vereins »Zeugen der Zeitzeugen« erzählen die Überlebenden ihre Lebensgeschichten als Zeitzeugen in Schulen und anderen Bildungsstätten – eine leidvolle Aufgabe, die man nicht hoch genug wertschätzen könne, sagte Rüdiger Mahlo, Repräsentant der Claims Conference Deutschland. Denn die Begegnung mit Zeitzeugen sei einer der wichtigsten und zentralen Bestandteile der Erinnerungsarbeit.
eiserner vorhang Mahlo betonte auch, dass die Claims Conference sich seit Jahrzehnten für die Zahlungen an Überlebende starkmache, sowohl bezüglich einmaliger Entschädigungen als auch Renten. Er erinnerte daran, dass Deutschland sich während des Kalten Krieges und auch danach erfolgreich geweigert habe, »Entschädigung in die Länder jenseits des Eisernen Vorhangs zu leisten und damit die jüdischen Opfer des NS-Regimes anzuerkennen«.
Mittlerweile würden zwar Entschädigungen und Renten gezahlt, auch in Mittel- und Osteuropa – allein für die Child Survivors habe die Claims Conference in den vergangenen zwei Jahren mehr als 70.000 Anträge zur Auszahlung gebracht. Doch all diese Leistungen würden nicht aufwiegen, was »Ihnen als Überlebenden des Nationalsozialismus widerfahren ist«, sagte Mahlo zu den Konferenzteilnehmern. Sie seien und blieben »ein Symbol für ein Mindestmaß an Gerechtigkeit«.
Die Schoa-Überlebenden seien »doppelt traumatisiert« – erst durch die Schoa, später durch die »ideologisch motivierte Nichtanerkennung ihres Leids in der ehemaligen Sowjetunion«. Mahlo versprach weitere Unterstützung, um die Situation der Überlebenden in Deutschland weiter auf die politische Tagesordnung zu setzen. So regte er etwa an, zusammen mit Phönix e.V. eine Arbeitsgruppe zu bilden, um herauszufinden, wie sich die finanzielle Unterstützung der Claims Conference auf die jeweiligen Herkunftsländer verteilt.
zwst Im Laufe des Tages kamen die Teilnehmer zudem mit Günter Jek ins Gespräch, dem Leiter des Berliner ZWST-Büros, sowie mit Daniel Müller, der das Projekt »Zeugen der Zeitzeugen« vorstellte. Dessen ehrenamtliche Mitarbeiter, darunter viele junge Freiwillige, dokumentieren die Geschichten der Überlebenden, begleiten sie in Schulen und kümmern sich um sie im Alltag.
Es sei moralisch schwer vorstellbar, sagte Müller der Jüdischen Allgemeinen, dass »ehemalige SS-Wachleute ihre vollen Renten bekommen, und ehemalige Ghetto-Zwangsarbeiter erhalten nichts, weil das deutsche Rentenkassensystem so funktioniert«.
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