Manchmal genieße ich einfach die Stille. Wenn ich nach Hause komme in meine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung, dann mache ich mir einen Tee, setze mich in den Sessel und höre in die Ruhe des Raumes. Das ist wunderbar – ein Gefühl, das ich früher in Sankt Petersburg nie kannte. Dort hatte ich immer bei meinen Eltern gelebt, auch nach der Hochzeit, selbst, als unser Sohn geboren war. Und bis zur Scheidung wohnte auch mein Mann mit da. Die Chance auf eine eigene Wohnung war illusorisch: Zu Sowjetzeiten gab es keine, und später hätte ich sie nicht bezahlen können.
Als meine Mutter, mein Sohn und ich dann 1997 nach Deutschland kamen, gab es richtigen Krach: Ich will in einer eigenen Wohnung leben, erklärte ich meiner Mutter kategorisch, von mir aus direkt nebenan, aber in einer eigenen. Ich habe mich damals durchgesetzt.
5-Millionen-Stadt Vor fünf Jahren ist meine Mutter gestorben. Mein Sohn Igor studiert hier in Leipzig Ethnologie und Politikwissenschaften. Er lebt mit seinen Freunden in einer WG. Und ich bin auch längst Leipzigerin, was, wenn man aus einer russischen Fünf-Millionen-Stadt stammt, durchaus eine Umstellung ist.
Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen: Ich lebe jetzt schon seit mehr als 13 Jahren in Deutschland, aber geschafft habe ich eigentlich noch nichts. Es ist ein Leben in Maßnahmen, wie man so schön sagt. Maßnahme auf Maßnahme. Mal eine ABM, mal einen Ein-Euro-Job, mal ein Praktikum. Dazwischen ein paar Monate nichts. Wenn man so will, bin ich zwar die ganzen Jahre auch immer tagsüber arbeiten gegangen. Doch ich bekomme längst Hartz IV und fürs Arbeiten eben ein paar Euro dazu.
Vor ein paar Wochen erst ist meine letzte Maßnahme zu Ende gegangen. Ich konnte ein Jahr bei der Gemeinde in Leipzig als Sozialarbeiterin überbrücken. Das hat Spaß gemacht, weil ich da Kontakte zu vielen Zuwanderern hatte. Ich war unter Menschen, hatte das Gefühl, gebraucht zu werden. Nun hoffe ich, dass die Bundesagentur mich neu vermittelt. Bis dahin bin ich für die Gemeinde ehrenamtlich tätig, sei es als Urlaubsvertretung im Sekretariat oder zur Unterstützung bei Veranstaltungen.
Campingplatz Meine erste Maßnahme begann 1998, gleich nach unserer Ankunft. Sechs Monate lang nahm ich an einem Deutschkurs für Aussiedler und Asylberechtigte teil. Anschließend arbeitete ich ein Jahr lang als Mitarbeiterin an der Rezeption eines Campingplatzes. In dieser Zeit habe ich parallel an der Volkshochschule weiter Deutsch gelernt, bevor ich dann für drei Monate einen Bürokurs machte.
So ging es weiter bis heute. Mal Projektleiterin in einem Verein, dann eine Trainingsmaßnahme »Deutsch im Beruf«, danach ein betriebliches Praktikum als Bürokauffrau, schließlich Kinderbetreuerin und Sozialassistentin. Nach spätestens einem Jahr war immer Schluss. Einmal habe ich eine Maßnahme abgelehnt, da wurden mir die Bezüge gekürzt. Ich sollte in einem acht Monate dauernden Kurs eine Ausbildung zur Lehrerin für Psychologie und Onkologie machen. Aber das hätte mich überfordert.
Eigentlich bin ich ja gelernte Lehrerin. Und das mit Leib und Seele, obwohl ich es zunächst nie werden wollte. Denn in unserer Familie waren immer alle Ärzte, außer meiner Mutter. Sie war Apothekerin. So war für mich auch klar, dass ich eines Tages Medizin studieren würde. Aber ich bekam keinen Studienplatz. Warum, wurde mir direkt ins Gesicht gesagt: Ich hatte das Problem mit der berühmten »fünften Zeile« – in der Sowjetunion die gängige Umschreibung dafür, jüdisch zu sein. In Zeile fünf des Passes wurde die Nationalität eingetragen.
Also begann ich an einer Leningrader Schule zu arbeiten und – nebenbei im Fernstudium – Pädagogik zu studieren. 1984 erhielt ich meinen Abschluss als Diplomlehrerin für Biologie und Chemie. Eine feste Stelle zu bekommen, schien jedoch zunächst unmöglich, denn ich hieß mit Vatersnamen Isaakowna. Die Schuldirektorin forderte mich also auf, zum Standesamt zu gehen, um daraus Wladimirowna zu machen – eine Entscheidung, die mir sehr schwergefallen ist. Ich konnte es nur über mich bringen, weil mein Vater da bereits gestorben war.
Inflation Später, nach 1990, bin ich dann an die Jüdische Schule in St. Petersburg gewechselt. Die Klassen waren kleiner, es gab ein gutes Miteinander, und wir sollten etwas mehr Geld bekommen. Zum Leben hat es trotzdem nicht gereicht. Die Inflation fraß alles auf. Also hat sich meine Familie schließlich entschieden auszuwandern. Dass es Deutschland wurde, war Zufall.
Heute bin ich noch immer in Kontakt mit meinen ehemaligen Schülern. In einem sozialen Netzwerk, einer Art russischem Facebook, habe ich 1.200 Freunde. Das macht mich stolz. Die Schüler denken an mich und melden sich noch Jahre später.
Ob ich in Deutschland Freunde habe? Ich habe gute Bekannte in Leipzig und ein paar Freunde aus der alten Heimat, die überall verstreut in der Bundesrepublik leben. Mit ihnen, alten Kollegen und ehemaligen Kommilitonen kann ich über wirklich alles reden. Inzwischen habe ich aber auch einen ganz engen Freund – einen Mann aus Leipzig, mit dem mich sehr viel verbindet. Er ist Elektriker, zwei Jahre älter als ich. Kennengelernt habe ich ihn beim Tanzkurs an der Volkshochschule.
Ob Tango oder Stepptanz: Dorthin und zum Schwimmen sowie zur Gymnastik gehe ich regelmäßig. An der Volkshochschule muss ich als Arbeitslose ja nur die Hälfte bezahlen.
Von meinem Freund habe ich gerade das eigentlich schönste Geschenk überhaupt bekommen: einen Reader für digitale Bücher. Ich kann mir im Internet ganz legal russischsprachige Literatur herunterladen und hunderte Bücher speichern. Das spart nicht nur Platz in meiner kleinen Wohnung, sondern ich habe die Titel auch immer bei mir.
Das Angebot an russischen Büchern in der Stadtbibliothek ist sehr beschränkt. Ich lese ja viel in meiner Muttersprache, denn die Lektüre deutscher Texte fällt mir immer noch schwer. Wir haben aber einen Kompromiss gefunden. Mein Freund liest mir immer etwas vor, auch aus Büchern. Im Moment sind wir bei Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab. Da können wir richtig schön diskutieren.
Herz Ich denke oft darüber nach, was Glück ist. In Russland waren wir arm, es reichte kaum zum Nötigsten. Aber ich hatte eine Aufgabe, war akzeptiert, hatte einen Freundeskreis. Die Wohnung meiner Eltern war zwar eine Kommunalka, eine Art Zwangs-WG, und ein Bad gab es nicht. Doch lebte ich in meiner Heimatstadt, an der noch immer mein Herz hängt.
Nun bin ich hier in Deutschland, wo ich mir in sozialer Hinsicht keine Sorgen machen muss. Die Wohnung ist saniert, die Nachbarn sind nett, Hartz IV beziehe ich auf jeden Fall, eine Rente später auch. Zum Leben reicht es also. Doch ich bin jetzt 50, und realistisch betrachtet, muss ich mir eingestehen, dass ich einen festen Job wohl nicht mehr bekomme. Wenn es gut läuft, kann ich auf neue Maßnahmen hoffen und die Jahre bis zur Rente überbrücken. Ich habe das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Es passiert irgendwie nichts. Doch ich würde so gerne noch einmal etwas Richtiges erleben.
Aufgezeichnet von Steffen Reichert