»Genaaaaauuuu«, soll Lea »Lola« Waks immer gesagt haben, wenn sie auf der Straße einer Touristengruppe begegnete, der ein
Guide die Geschichte der Juden im Bayerischen Viertel in Berlin-Schöneberg näherbrachte. Sie war selbst Jüdin. Eine stolze, kleine, zierliche Frau mit klarer, lauter Stimme, die etwas zu erzählen hatte: darüber, wie sie als Kind die Schoa im Ghetto Lodz überlebt hatte. Darüber, wie sie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrem Heimatland Polen erneuten Pogromen ausgesetzt war. Und darüber, wie sie 1946 von dort floh – ausgerechnet nach Deutschland. Eben noch das Land der Täter, nun Zufluchtsort für sie und Tausende andere osteuropäische Juden.
Ein Widerspruch? Nicht ganz, denn viele Juden begaben sich als »Displaced Persons« in sogenannten DP-Camps in die Obhut der westlichen Siegermächte, vor allem die der Amerikaner. Deutschland sollte nicht mehr als ein Zwischenhalt sein, das eigentliche Ziel lautete Palästina oder USA. Doch die Ausreise dauerte mitunter mehrere Jahre. Einige blieben für immer in Deutschland. So auch Lea Waks.
wissenslücke Die Journalisten Hans-Peter Föhrding und Heinz Verfürth lernten Lea Waks vor sechs Jahren in Berlin kennen. Ihr Leben bildet in ihrem jüngst im KiWi-Verlag erschienenen Buch Als die Juden nach Deutschland flohen. Ein vergessenes Kapitel der Nachkriegsgeschichte den roten Faden, um den sich weitere Einzelschicksale und die politische Situation zwischen 1945 und 1957 spinnen.
Am vergangenen Donnerstag stellten die Autoren ihr Buch in der Berliner Landeszentrale für politische Bildung vor. Auf dem Podium neben ihnen nahm außer Lea Waks’ Sohn Ruwen »Robbi«, der als Historiker und Politologe in Tel Aviv arbeitet, Lala Süsskind Platz, von 2008 bis 2012 Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Mehr als drei Jahre haben Föhrding und Verfürth für ihr Buch recherchiert. In ihrem Freundes- und Bekanntenkreis hätten viele die Geschichte der osteuropäischen Juden, die nach 1945 nach Deutschland geflüchtet waren, nicht gekannt, sagten sie. Diese Wissenslücke haben sie füllen wollen.
neuanfang Lea »Lola« Waks kam mit ihrer Familie illegal über die österreichische Grenze nach Westdeutschland. Ihr Ziel: das DP-Lager in Ziegenhain in Nordhessen. Ihre Liebe Aron war damals schon dort. Sie heirateten 1946 im Camp, kurze Zeit später kam ihr Sohn Ruwen zur Welt, dann folgte Moishe. Ihr Leben konnte von Neuem beginnen.
Die Jahre in den DP-Lagern – jenes in Ziegenhain und später das in Föhrenwald – seien glückliche gewesen, sagte Robbi Waks. Geografisch habe man sich in Deutschland befunden, gelebt habe man allerdings ein polnisches Schtetl-Leben: mit Synagogen, Schulen, Ausbildungsstätten und Theatern. Untereinander habe man nur Jiddisch gesprochen. Eine hohe Bretterwand trennte die DP-Flüchtlinge von der deutschen Realität, in der der Antisemitismus noch immer präsent war.
»Beide Seiten wollten miteinander nichts zu tun haben«, so Hans-Peter Föhrding. Die Deutschen nicht, weil sie neidisch auf die Juden waren, denen sie vorwarfen, »von den Amerikanern bevorzugt behandelt« zu werden. Die Juden in den Camps suchten aufgrund der Erlebnisse während der Schoa einen Rückzugsort zu sich selbst. Auch Lala Süsskind ist ein »DP-Kind«. Auf die Frage, warum Juden nach Kriegsende oftmals eine Familie gründeten, antwortete sie: »Man hatte wieder Zukunftspläne.«
Erst 1957 verließ die Familie Waks das DP-Camp Föhrenwald, als es geschlossen wurde. Die Jüdische Gemeinde in Düsseldorf nahm sie auf. »Ich musste nun richtig Deutsch lernen«, erinnerte sich Robbi Waks. Während er sich Ende der 60er-Jahre in Tel Aviv ein Leben aufbaute – mit Frau, Kindern und Job –, zog es seinen Bruder Moishe nach dem Studium in Israel nach Berlin, wo er später Schuldezernent, Kulturdezernent und Repräsentant der Jüdischen Gemeinde zu Berlin wurde. Die Eltern Lea und Aron blieben bis zu ihrem Tod in Deutschland. 1980 starb Aron in Düsseldorf, Lea 35 Jahre später in Berlin – sechs Jahre nach ihrem Sohn Moishe.
Bayerisches Viertel Leas Tod erschüttert Gudrun Blankenburg noch heute. Die beiden Frauen lebten seit 2008 Tür an Tür am Bayerischen Platz. »Wir waren immer ›Frau Waks‹ und ›Frau Blankenburg‹, wir haben uns nie geduzt«, sagte sie nach der Buchpräsentation. Und das, obwohl sie sich nahestanden: Täglich habe sie ihre Nachbarin besucht und nach dem Rechten geschaut. Sie war es auch, die den Kontakt zu den beiden Journalisten herstellte.
Eines Samstags jedoch öffnete Lea Waks nicht die Tür. »Ich dachte, sie ist noch unterwegs«, berichtete Gudrun Blankenburg. Am Sonntag klingelte sie erneut – ohne Reaktion. Am Montag schloss sie gemeinsam mit Heinz Verfürth die Wohnungstür auf – von Lea Waks keine Spur. Wie sich später herausstellte, war die alte Dame auf dem Heimweg gestürzt. Sie hatte keinen Ausweis dabei. Im Krankenhaus war sie als anonyme Patientin aufgenommen worden.
»Von ihrem Sturz ist sie nie wieder aufgewacht«, sagte Gudrun Blankenburg. »Frau Waks war einfach weg. Das hinterließ bei mir ein völliges Vakuum.« Eine ähnliche Reaktion habe ihr Tod auch in der Gemeinde ausgelöst. Lala Süsskind erinnerte sich vor allem daran, wie Lea Waks in Berlin aufgelebt sei. »Sie wurde hier als Jüdin selbstsicherer«, erzählte Süsskind.
Und dennoch: Trotz ihres langen Lebens in Deutschland sei seine Mutter nie angekommen, wandte Robbi Waks ein. Solch einen Satz hätte sie nie über die Lippen gebracht. Auch er selbst stehe heute irgendwo zwischen Israel und Deutschland. »Ich bin dort noch nie richtig an- und hier nie richtig weggekommen. Ich bin ›der Jid dazwischen‹.«
Die Fertigstellung des Buches erlebte Lea Waks zwar nicht mehr, aber sie hatte sich darauf gefreut.
Hans-Peter Föhrding, Heinz Verfürth: »Als die Juden nach Deutschland flohen. Ein vergessenes Kapitel der Nachkriegsgeschichte«. Kiebenheuer & Witsch, Köln 2017, 352 S., 24 €