Wie der Publizist Jürgen Serke, der 1980 mit seiner Reportage »Die Geschichte einer Entdeckung« Selma Merbaums Schicksal in Deutschland bekannt machte, im Vorwort der 2005 erschienenen Neuausgabe des Bandes Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte schrieb, gehören »bei Lesungen, die die Verfolgung von Dichtern zum Thema haben, ihre Gedichte längst zum Repertoire«.
Für das Lyrik Kabinett und das Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern wurde die zeitliche Nähe gleich zweier Gedenktage zum Anlass, an die Jugendliche zu erinnern, deren Gedichte in einem handgebundenen Album, Blütenlese betitelt, erhalten blieben. Kurz nach dem Internationalen Holocaust-Gedenktag, dem 27. Januar, jährte sich am 5. Februar der 100. Geburtstag von Selma Merbaum.
Holger Pils, Leiter des Lyrik Kabinetts, gewann für die Hommage die Dichterin und Performerin Nora Gomringer. Wie das einmal zur Gewohnheit Gewordene will, wird der zweite Vorname der Referentin, Eugenie, meist vergessen, während Selma Merbaum über Jahrzehnte nur als Selma Meerbaum-Eisinger durch die Literaturgeschichte geisterte, obwohl sie von ihrem Stiefvater Leo Eisinger formell nie adoptiert wurde.
Diese und viele andere Informationen trug übrigens Marion Tauschwitz in ihrer informativen Biografie zu Selma Merbaum zusammen. Gomringer hatte vor ihrem Abend im Lyrik Kabinett offensichtlich alles gelesen, was es zu finden gab. Zugang zum Denken und Fühlen dieser dichtenden Jugendlichen erhielt sie über einen selbst verfassten Brief, den sie im bis auf den letzten Platz überfüllten Lyrik Kabinett vortrug.
Gomringer sprach von der »Demut«, mit der sie aus den 58 Texten zitieren wolle. Neben den Gedichten, die bei der Freundin Else Schächter überdauerten, ist ein zum Kassiber gefalteter Brief erhalten, von Selma im August 1942 an Renée Abramovici gerichtet. Wer Merbaums nachgelassene Schriften liest, begegnet einer geborenen Dichterin, gleichzeitig aber auch einem zu inniger Freundschaft fähigen Menschen, einer Jugendlichen, die gerade die Liebe entdeckte in Gestalt von Lejser Fichman, der 1943 auf der Flucht Richtung Palästina im Schwarzen Meer ums Leben kam.
Gomringer sprach zu Merbaum (1924–1942) auch mit Ironie über den Hype, den ihr Name auslöst: »Sie sind tot und sollen ein Schneewittchen sein«, wiedererweckt durch die Begeisterung für ihre Geschichte – ein kurzes, intensives und durch Ermordung beendetes Leben. Dann rezitierte Gomringer »Müdes Lied« vom 23. Dezember 1941: »Ich möchte schlafen, denn ich bin so müd«, sang das »Schlaflied für die Sehnsucht« und rezitierte Gedichtübersetzungen von Paul Verlaine, den Merbaum einst las – ebenso wie Heine und Rilke. Die poetische Begabung lag in der Familie. Selma Merbaum und Paul Celan waren Cousine und Cousin zweiten Grades, ihre Großväter waren Brüder.
Marion Tauschwitz: »Selma Merbaum. Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben«. Klampen, Springe 2023, 360 S., 28 €