Frankfurt

Ein Jahr wie kein anderes

Aus einem Dutzend Ländern kamen über 100 Teilnehmer zum Shabbaton nach Frankfurt.
Aus einem Dutzend Ländern kamen über 100 Teilnehmer zum Shabbaton nach Frankfurt.

Zur ausgelassenen Stimmung der jungen Menschen wollen die Regeln für dieses Wochenende so gar nicht passen: Zwischen dem jüdischen Gemeindezentrum und ihrem Hotel sollen sie nur ausgeleuchtete Wege nutzen, immer mindestens zu zweit unterwegs sein, in der Öffentlichkeit keine Kippa tragen und keinen Magen David. Selbst der Jutebeutel, den alle Anwesenden erhalten haben, unterliegt der Risikobewertung.

Auf diesem steht das Motto der Veranstaltung: »We won’t let you get us down – Jewish resistance after 1945«. Auf Deutsch: »Wir lassen uns von euch nicht unterkriegen – Jüdischer Widerstand nach 1945«. Besser solle man die bedruckte Seite der Tasche von der Straße abgewandt halten, mahnt Hanna Veiler. »I know it sucks, but these are the times we live in«, sagt die Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD). Es nerve zwar, aber das seien nun einmal die Zeiten, in denen man lebe.

Veiler spricht Englisch, weil ihr Publikum international ist: Auf Einladung der JSUD und des Verbands Jüdischer Studierender Hessen (VJSH) sind über 100 junge Jüdinnen und Juden aus etwa einem Dutzend vorwiegend europäischer Länder nach Frankfurt am Main gekommen. In den Räumen der Jüdischen Gemeinde veranstalten sie die »International Conference/Shabbaton«, eine Kombination aus Schabbatfeier und Bildungsprogramm mit Workshops und Diskussionen, in diesem Fall alles im Zeichen jüdischen Widerstands. Drei Tage lang wollen sie sich austauschen, Kraft schöpfen, voneinander lernen, miteinander feiern – und ab und zu die Welt da draußen ein bisschen vergessen.

Kennenlernrunde nach der Ankunft im GemeindezentrumFoto: Debi Simon

Denn wenn die Gastgeberin von den »Zeiten, in denen wir leben«, spricht, wissen alle Teilnehmer, was gemeint ist: Auch 13 Monate nach den Hamas-Massakern vom 7. Oktober 2023 und dem seitdem anhaltenden Krieg in Gaza ist die jüdische Gemeinschaft in Aufruhr. In Europa hat der Antisemitismus sprunghaft zugenommen, und die Universitäten sind zu Epizentren israelfeindlicher Proteste geworden. »Junge Jüdinnen und Juden fühlen sich wie in eine Ecke gedrängt, in der man nur im Verteidigungsmodus ist«, sagt Veiler. »Das macht etwas mit uns.«

Selbst in Finnland verstecken Juden ihre Identität

Es hat auch etwas mit Kevin Moshe Cohen gemacht. Der junge Franzose war Mitglied bei den Sozialisten, saß im Stadtparlament eines Pariser Vororts. Dann kam der 7. Oktober – »und die Linke hier ist verrückt geworden«, sagt Cohen. Als der sozialistische Bürgermeister ihn vor die Wahl gestellt habe, sich entweder für sein pro-israelisches Engagement öffentlich zu entschuldigen oder sich aus der Politik zurückzuziehen, warf Cohen alles hin: Nach dem Parteiaustritt will er nun auch das Land verlassen und nach Israel ziehen. »Als Jude fühle ich mich nicht mehr sicher in Frankreich.«

Nach dem 7. Oktober 2023 fing Sofia Reznik an, sich bei der »Juutalainen Opiskelijayhdistys« (JOY) zu engagieren, der jüdischen Studierendenorganisation Finnlands. In dem nordischen Land leben zwar weniger als 3000 Juden, und doch: »Auch hier verstecken manche ihre jüdische Identität«, erzählt Reznik. Sie selbst trägt dagegen in den Straßen Helsinkis selbstbewusst die Davidstern-Kette. Die Gespräche mit Teilnehmern aus anderen Ländern hätten ihr gezeigt, wie verhältnismäßig sicher jüdisches Leben in Finnland noch sei. »Es könnte besser sein, aber auch schlechter«, sagt sie.

»Junge Jüdinnen und Juden fühlen sich wie in eine Ecke gedrängt.«

Hanna Veiler, JSUD-Präsidentin

Lea, die ihren Nachnamen lieber nicht gedruckt sehen will, fragt sich, wie lange es in Deutschland noch ein aktives Judentum geben wird. »Es sind vor allem die religiösen Juden, die wegen einer fehlenden jüdischen Infrastruktur und wegen des Antisemitismus wegziehen«, sagt sie. Doch wenn niemand mehr die Traditionen pflegt, fehlt die Grundlage für den Fortbestand der jüdischen Gemeinschaft, glaubt die studierte Architektin, die in Darmstadt lebt. Sie sucht nach Argumenten, in Deutschland zu bleiben. »Doch will ich meine künftigen Kinder wirklich dem Antisemitismus hier aussetzen?«

Für Toby Millis war die Zeit seit dem 7. Oktober 2023 »ein Jahr wie kein anderes«. Er studiert an der Universität Greenwich in London und engagiert sich bei der »Union of Jewish Students«, der ältesten jüdischen Studierendenorganisation der Welt. An britischen Hochschulen gebe es auch israelfeindliche Proteste, so Millis. Aber: »So schlimm wie in den USA ist es in Großbritannien nicht.« Er kenne zwar britische Juden, die derzeit über Alija, die Auswanderung nach Israel, nachdächten, wolle selbst aber bleiben. »Die Diaspora braucht uns gerade mehr denn je«, sagt er. Und außerdem: »Israel ist verdammt teuer.«

Kerzenzünden am FreitagabendFoto: Debi Simon

Auch Radek Pintara will nicht weggehen. »Hier haben über 1000 Jahre lang Juden gelebt«, sagt er über sein Heimatland Polen. »Stell dir vor, das hört eines Tages einfach auf!« Pintara engagiert sich in der Warschauer Gemeinde. Die größte Gefahr für die jüdische Community Polens sei Überalterung. Zu den überschaubaren israelfeindlichen Protesten in Warschau sagt Pintara dagegen: »Die können wir gut überleben.«

Frankfurt hat eine selbstbewusste jüdische Gemeinde

In der Mitte Deutschlands sind an diesem Wochenende junge Jüdinnen und Juden zusammengekommen, die sich – dem Veranstaltungsmotto getreu – nicht unterkriegen lassen wollen. Sie sind erschöpft, enttäuscht, viele haben Freunde verloren, ein paar nur ihre Geduld. Doch sie alle leisten auf jeweils eigene Weise Widerstand gegen eine Entwicklung, die jüdisches Leben in Europa zunehmend infrage stellt. Und wo könnte man das besser zum Thema machen als in Frankfurt am Main?

Die Stadt hat eine der traditionsreichsten und selbstbewusstesten jüdischen Gemeinden Deutschlands. Eine ihrer prägendsten Persönlichkeiten nach der Schoa war Arno Lustiger, ein Pionier der Geschichtsschreibung über jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus.

Das Frankfurter Gemeindezentrum hat etwas von einer stolzen Burg. Hier ist man sicher, versteckt sich jedoch nicht.

In der 68er-Bewegung waren viele Frankfurter Juden aktiv, die mit ihren progressiven Ideen auch die jüdische Gemeinschaft aufmischten, und 1984 besetzten Gemeindemitglieder in einer legendären Aktion die Bühne des Frankfurter Schauspielhauses, auf der das als antisemitisch kritisierte Stück Der Müll, die Stadt und der Tod von Rainer Werner Fassbinder aufgeführt werden sollte.

Dieser Trotz spiegelt sich im Erscheinungsbild des Gemeindezentrums wider. Der etwas klotzige Gebäudekomplex liegt mitten im Stadtzentrum und überragt die umliegenden Häuser. Von Zäunen umgeben und schwer bewacht, hat er etwas von einer stolzen Burg. Hier ist man sicher, versteckt sich jedoch nicht.

Widerstand heißt, die Gemeinschaft mit Leben zu füllen

In diesem »Safe Space« soll es während des Schabbaton aber nicht nur um Antisemitismus und den 7. Oktober 2023 gehen. Man will auch nach innen schauen: Welche Veränderungen wollen junge Jüdinnen und Juden in ihrer Gemeinschaft anstoßen?

Mike wünscht sich, dass in der Gemeinde mehr über Gott geredet wird. Eva hätte gerne einen Klub in ihrer Stadt, in dem israelische Musik gespielt wird. Lea will ein größeres Angebot an Schiurim. Radek sucht nach mehr Gelegenheiten, die Menschen in seiner Gemeinde besser kennenzulernen. Nicole möchte mit anderen Jüdinnen und Juden nicht immer nur über Antisemitismus und Politik sprechen, sondern auch über schönere, banalere Dinge. Laura hätte in ihrer Gemeinde gern einen israelischen Kochkurs, und Joshua träumt von einem jüdischen Alpinklub.

Nach der Hawdala wird gefeiert.Foto: Debi Simon

Für sie alle bedeutet Widerstand nicht nur den Kampf gegen die Windmühlen des Antisemitismus. Es heißt auch, die jüdische Gemeinschaft mit Leben zu füllen. Und: die Fähigkeit nicht zu verlieren, auch einmal ausgelassen, gar euphorisch zu sein. Das geht in diesen Zeiten nur, wenn man mühelos von Feierlaune in einem Moment zu tiefem Ernst im nächsten wechseln kann.

Wie das aussieht, machen die Schabbaton-Teilnehmer am Samstagabend vor. Lagen sie sich eben noch bei der Hawdala in den Armen, gedenken sie anschließend der Geiseln im Gazastreifen. »Man muss weiterspielen, man muss weiterspielen«, singen sie auf Hebräisch, »denn diese Melodie kann man nicht unterbrechen«, während die Namen der seit 13 Monaten von der Hamas Festgehaltenen vorgelesen werden. Den Rest des Abends wird dann wieder gefeiert. Es soll eine wilde Party gewesen sein.

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