In der Pogromnacht 1938 konnte sie gerettet werden, nun ist sie erstmals zu sehen: die Notensammlung des Frankfurter Oberkantors Nathan Saretzki (1887–1944). Das Europäische Zentrum für Jüdische Musik zeigt die kostbaren Bände in der Villa Seligmann in Hannover. Es ist die erste Ausstellung seit der Einweihung des Hauses im Januar.
Die Sammlung Saretzki ist ein Stapel Bücher, der exakt 24 Kilogramm wiegt. Als am 10. November 1938 die Frankfurter Hauptsynagoge brennt, wagt sich Oberkantor Nathan Saretzki zurück in die Flammen. 16 Notenbände kann er retten und bringt sie gemeinsam mit seinem Sohn Edgar in Sicherheit. Edgar emigriert 1939 nach England. Seine Eltern werden im August 1942 nach Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet.
Abschied Vor dem Abtransport schreibt Saretzkis Frau Emmy an ihre langjährige katholische Haushälterin Hermine Baumeister: »Heute treten wir unsere große Reise an und möchten es nicht versäumen, Ihnen allen Lebewohl zu sagen.« Nathan Saretzki vertraut Hermines Sohn, Hermann Baumeister, seine Notenbände an, mit den Worten: »Heben Sie das gut auf, bis ich wiederkomme!«
Ein Versprechen, das Hermann gehalten hat. Als Frankfurt bombardiert wird, bringt er die Noten in einem hessischen Dorf in Sicherheit. Nach Kriegsende bewahrt er sie über Jahrzehnte hinweg in seinem Keller auf – bis zum Jahr 1997.
Da hält Edgar Sarton-Saretzki, inzwischen kanadischer Journalist und Diplomat, in Frankfurt einen Vortrag. Hermanns Schwester Luzie liest davon in der Zeitung und meldet sich bei Edgar, der viele Jahre lang vergeblich versucht hatte, die Baumeisters zu finden.
Rückgabe Bei einem Treffen kann Hermann ihm endlich den Notenschatz zurückgeben. Edgar Sarton-Saretzki überreicht ihn im Januar 1998 im Rahmen eines Festakts im Niedersächsischen Landtag als Schenkung an Andor Izsák vom Europäischen Zentrum für Jüdische Musik in Hannover.
Die geretteten Noten, die dort noch bis zum 1. Dezember in vier Räumen gezeigt werden, repräsentieren die europäische Synagogalmusik. Es sind Klassiker und auch sehr rare Stücke, die zu der Sammlung gehören.
Originale Andor Izsák weist auf die bedeutendsten Werke hin: Da ist zum Beispiel das Original von Louis Lewandowskis 18 liturgischen Psalmen, die der Komponist dem Bayernkönig Ludwig II. widmete, oder die Partitur der Synagogengesänge von Hirsch Weintraub, Kantor und Musikdirektor in Königsberg. In der Partitur war noch ein Brief versteckt, den Weintraub an den Gemeindevorstand in Königsberg geschrieben hatte.
Ergänzt wird die Ausstellung durch Texttafeln, die Hintergrundwissen vermitteln und die Exponate in den geschichtlichen, kulturellen und religiösen Kontext stellen. Darüber hinaus hat der Besucher die Möglichkeit, Klangbeispiele zu hören. Die Chance, diese Raritäten mit Muße zu betrachten, wird es in Zukunft nicht mehr oft geben. Dazu seien die alten Papiere viel zu empfindlich, heißt es.
Geöffnet bis 1. Dezember, Anmeldung unter karten@ezjm.de oder 0511/844 88 71 00, www.ezjm.hmtm-hannover.de