Man nennt ihn das jüdische Gedächtnis von Berlin. Die Rede ist von Hermann Simon, dem Historiker und langjährigen Direktor der Stiftung »Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum«.
1949 als Sohn der Philosophiehistorikerin Marie Jalowicz und des Judaisten Heinrich Simon im Ostsektor der Stadt geboren, hatte er an der Humboldt-Universität Geschichte und Orientalistik studiert, wurde dort 1975 promoviert.
Mauerfall Kaum jemand dürfte mehr Kenntnis über das Leben der Juden in der DDR haben als er. Zugleich war Simon Zeuge der Ereignisse rund um den Fall der Mauer und der Jahre danach, lieferte mit seinen vielfältigen Publikationen und Ausstellungsprojekten wertvolle Beiträge zum besseren Verständnis der jüdischen Geschichte im Nachkriegsdeutschland.
»Wenn wir von Juden in Ostdeutschland reden, müssen wir von der jüdischen Gemeinschaft in der DDR sprechen«, betont Simon gleich zu Anfang des Gesprächs mit Philipp Peyman Engel, Redakteur der Jüdischen Allgemeinen, in der neuen Folge der Podcast-Reihe »Schon immer Tachles« des Zentralrats der Juden in Deutschland.
»Es gab eine große Zahl an Menschen, die vor 1945 als Juden verfolgt waren, aber später nie Mitglied einer jüdischen Gemeinde wurden«, skizziert er die Gründe dafür. »Selbstverständlich existierte dieses Phänomen auch in Westdeutschland. Aber in der DDR war ihre Zahl ungleich höher.«
»Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, so habe ich nie verschwiegen, dass ich Jude war.«
Hermann Simon
Und er verweist auf einen weiteren, diese ganz spezielle jüdische Gemeinschaft prägenden Umstand. »Anders als in der Bundesrepublik gab es keinerlei jüdische Zuwanderung. Wer aus Ländern kam, in denen ähnliche politische Verhältnisse herrschten wie in der DDR, ging als Jude doch nicht von Moskau nach Ost-Berlin, sondern – wenn es möglich war – nach München oder Frankfurt.«
Jugendliche Konkret heißt das: Mit jeder Person, die verstarb oder das Land verließ, schrumpfte diese zahlenmäßig ohnehin sehr kleine Gruppe noch weiter. Zudem war die jüdische Gemeinschaft völlig überaltert. »Es fehlten einfach die jungen Leute.« Als die DDR dann schließlich implodierte, zählte die jüdische Gemeinde in Ost-Berlin, immerhin die größte des Landes, gerade einmal etwas mehr als 200 Personen. Insgesamt gab es zu diesem Zeitpunkt in der ganzen DDR nur noch rund 500 Juden, die Gemeindemitglieder waren. »Da galt schon der Satz: Der Letzte macht das Licht aus.«
Entsprechend schwer war es daher auch, in der DDR jüdisches Leben aufrechtzuerhalten. »Für die Gottesdienste an den Hohen Feiertagen mussten Rabbiner aus Ungarn anreisen oder wie Rabbiner Ernst Stein aus West-Berlin.« Und anders als in der alten Bundesrepublik, wo ehemalige Displaced Persons mit osteuropäischen Wurzeln das Bild dominierten, waren die Gemeinden der DDR »deutscher oder vielleicht jekkischer«, wie Simon hervorhebt. »Es gab viele Mitglieder, die aus den alten Gemeinden stammten, also schon vor der Nazi-Zeit dort gelebt hatten.«
»Als kleine Gemeinschaft müssen wir mit einer Stimme sprechen.«
Hermann Simon
Staatliche Interventionen machten die Sache nicht einfacher. »Vor allem die 50er-Jahre waren sehr kompliziert«, so Simon. »Man kann sogar von einer Verfolgungssituation sprechen.«
Zwar hatte seine Familie Glück, geriet nie in das Visier der Kontrollorgane wie andere Juden. »Ganze Führungsetagen, wie in Erfurt, flohen damals in den Westen.« In anderen Phasen der DDR-Geschichte sah es wieder entspannter aus. »Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, so habe ich nie verschwiegen, dass ich Jude war. Für mich war es selbstverständlich, zu Rosch Haschana eben nicht in die Schule zu gehen, sondern zu Hause zu bleiben und die Synagoge zu besuchen.«
Israel »Eigentlich war alles, was mit Religion und Synagoge zusammenhing, relativ unproblematisch«, erinnert sich der Historiker. »Schwierig wurde es aber immer, wenn Israel zur Sprache kam.« Dann hielt man sich als Gemeinde zurück oder affirmierte sogar die feindselige Haltung der DDR gegenüber dem jüdischen Staat.
Rückblickend sieht Simon dieses stillschweigende Einverständnis mit der ostdeutschen Politik äußerst kritisch. »Eine jüdische Gemeinschaft ohne Israel ist doch undenkbar. Israel hat einen so hohen Stellenwert für uns alle. Das auszuklammern, war nicht richtig.«
Gut kann er sich auch an die Zeit der Wiedervereinigung erinnern. Bis die jüdischen Gemeinden der Stadt wieder richtig zusammenfanden, sollte es aber noch etwas länger dauern. »Das war der Verdienst von Heinz Galinski«, so Simon. »200 Ost-Berliner und 3000 West-Berliner, macht eigentlich nach Adam Riese 3200 Gemeindemitglieder. Aber es waren in der Praxis dann plötzlich 11.000.« Denn nun waren die Russen da, die Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion. »Jeder brachte sein Stück Geschichte mit ein.« Und am Ende gab es eine völlig andere, weil ganz neue Gemeinde.
Fragil Doch eines bereitet Simon trotz allem, was durch die Wiedervereinigung gelungen ist, große Sorgen. »Wie weit kann der Staat uns schützen?«, fragt er mit Blick auf die jüngsten Anschläge in Halle und Hamburg. »Jüdisches Leben ist einerseits endlich wieder da, auch wenn das Wort Blüte vielleicht etwas zu positiv klingt. Andererseits ist es fragil und bedroht.«
Damit will der Historiker auch auf die inneren Probleme verweisen und die mitunter aufbrechenden Differenzen. »Deshalb bin ich ein entschiedener Verfechter der Einheitsgemeinde und finde es gut, dass der Zentralrat sich als Organisation versteht, unter deren Dach alle verschiedenen Strömungen Platz finden. Als kleine Gemeinschaft müssen wir mit einer Stimme sprechen.«