Frau Ministerin, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland wird 100. Welche geschichtliche Perspektive hat das Jubiläum?
Das 100-jährige Jubiläum der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland unterstreicht die lange Tradition jüdischer Wohlfahrtsarbeit in unserem Land und ist ein Geschenk an die deutsche Gesellschaft. Denn es war keineswegs selbstverständlich, dass die ZWST nach der Zerschlagung durch die Nationalsozialisten und dem Holocaust sich für eine Fortführung der Arbeit in Deutschland entscheidet. Trotz dieser tiefer Einschnitte und Brüche gelang es der ZWST, sich komplett neu aufzustellen und neue soziale Herausforderungen wie etwa die Zuwanderung aus Osteuropa und die daraus resultierenden Anforderungen erfolgreich zu bewältigen. Das war eine außerordentliche integrative, soziale und menschliche Leistung, für die wir überaus dankbar sind.
Die Zuwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion hat die jüdische Gemeinschaft entscheidend geprägt. Wie bewerten Sie diese Integrationsleistung?
Die Zuwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach dem Fall der Mauer 1989 brachte für die jüdische Gemeinschaft tief greifende Veränderungen: Die Mitgliederzahl verdreifachte sich, und die absolute Mehrheit der Mitglieder hat heute einen Migrationshintergrund. Die Zuwanderung bedeutete eine große Bereicherung. Sie stellt aber bis heute auch hohe Anforderungen an eine integrative und interkulturelle Sozial- und Jugendarbeit. Dabei werden wir die ZWST auch weiterhin unterstützen.
Wie sieht die Zusammenarbeit Ihres Hauses mit der ZWST aus?
Die ZWST ist gleichberechtigtes Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. Wir empfinden die Zusammenarbeit mit der ZWST als äußert produktiv und partnerschaftlich, offen, hilfreich und sehr lehrreich.
Welche Rolle spielt die ZWST als Träger von Freiwilligendiensten?
Bereits seit Anfang der 60er-Jahre entsenden deutsche Organisationen Freiwillige nach Israel. Seit 2011 gehen allein über den Internationalen Jugendfreiwilligendienst (IJFD) meines Hauses jährlich circa 250 junge Menschen nach Israel. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland koordiniert den Dienst. Während des pädagogisch begleiteten Aufenthalts werden das gegenseitige Verständnis, die Kenntnisse über jüdische Geschichte und die Reflexion eigener Werte und Ziele gefördert. Damit wird ein wichtiges Signal gegen Antisemitismus gesetzt. Gleichzeitig ist das Programm ein unschätzbarer Beitrag zur deutsch-israelischen Freundschaft.
Wie schätzen Sie die sich entwickelnden neuen Aufgaben der ZWST – zum Beispiel in der Flüchtlingsarbeit – ein?
Ein wiederkehrendes Element der 100-jährigen Geschichte der ZWST ist der Umgang mit Migration und daraus entstehenden Integrationsaufgaben. Die Erfahrungen bei der Aufnahme von Zuwanderern aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion konnten bei der Bewältigung der aktuellen Herausforderungen in der Flüchtlingsarbeit produktiv genutzt werden.
Kann die ZWST auch Vorbild beim Aufbau muslimischer Sozialverbände sein?
Ja, das kann sie. Die jüdische Wohlfahrtspflege war in ihren Anfängen dezentral und kleinteilig strukturiert. Es war Bertha Pappenheim, die erkannt hat, dass es für die Qualität, Effizienz und Effektivität von Wohlfahrtsleistungen einer zentralen Struktur bedarf. Ihr ist es zu verdanken, dass die ZWST als Dachverband infolge einer von innen angetriebenen Entwicklung entstand. Eine weitere und, wie ich finde, noch wichtigere Besonderheit der ZWST ist es, dass unter ihrem Dach unterschiedliche religiöse Strömungen im Judentum gebündelt wurden. So arbeiten mittlerweile mehr als 100 jüdische Gemeinden und Landesverbände unterschiedlicher religiöser Richtungen zum Wohle aller ZWST-Mitglieder zusammen.
Sie fördern das neue ZWST-Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment, das wirksame Methoden im Umgang mit Antisemitismus und Diskriminierung entwickelt und umsetzt. Wie wichtig ist diese Arbeit?
Dieses Zentrum leistet einen außerordentlich wichtigen Beitrag zum Umgang mit Antisemitismus. Das gilt insbesondere beim Auf- und Ausbau von Beratungsangeboten für diejenigen, die Antisemitismus am eigenen Leib erleben oder erlebt haben. Für mich ist es wichtig, dass solche Förderungen nicht nur temporär stattfinden. Wir brauchen da langfristige Strukturen. Deswegen setze ich mich für ein Demokratiefördergesetz ein, in dem solche Projekte festgeschrieben werden können. Dieses zu schaffen, ist eine wichtige Aufgabe für die nächste Legislaturperiode.
Das Interview mit der Bundesfamilienministerin führte Detlef David Kauschke.