Viele Juden identifizieren sich mit ihrer Gemeinde und fühlen sich in ihr zu Hause. Das ergibt das Gemeindebarometer, eine Umfrage, die der Zentralrat der Juden in Zusammenarbeit mit dem Joint Distribution Committee (JDC) von September bis Dezember vergangenen Jahres durchgeführt hat. Am Montag stellte der Zentralrat die Auswertungen durch das Meinungsforschungsinstitut infas vor.
Ziel der Erhebung war, eine »ehrliche Bestandsaufnahme zu wagen«, erklärt Zentralratspräsident Josef Schuster. Zu Wort kamen Gemeindemitglieder, ehemalige Mitglieder und Menschen, die nie Mitglied einer jüdischen Gemeinde waren. 2716 Jüdinnen und Juden über 18 Jahre beteiligten sich an dieser online durchgeführten Umfrage. Es ist damit die teilnehmerstärkste Erhebung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland seit 1945.
Teilnehmerquote Schuster freut sich über die rege Teilnahme und darüber, »dass sich viele Menschen mit eigenen Vorschlägen eingebracht haben«. Dass für viele Mitglieder das Gemeindeleben wichtig sei, habe ihn zwar nicht überrascht, aber seine subjektiven Eindrücke bestätigt.
Grund für die Erhebung waren nicht zuletzt die sinkenden Mitgliederzahlen bei einem gleichzeitig steigenden Programmangebot. Allein mit dem demografischen Faktor – dass mehr Menschen sterben, als Kinder geboren werden – konnten die Zahlen nicht erklärt werden, befand der Zentralrat. Er wollte fragen, »wo der Schuh drückt, die Stimmungslage erkunden (…), um die Gemeinden attraktiver zu machen und Mitglieder zu gewinnen«, erklärt der Zentralratspräsident.
Die Fragen bezogen sich darauf, wie die jüdischen Gemeinden und Verbände wahrgenommen, in welchem Maße ihre Gemeindeangebote in Anspruch genommen werden und wie eng sich jeder Einzelne der Gemeinde verbunden fühlt. Umfragemedien waren Facebook und Instagram, die Webseite des Zentralrats, Anzeigen, die Jüdische Allgemeine, Direktlinks über Poster und Flyer.
Der überwiegende Teil der Befragten ist Mitglied aus Überzeugung, und 22 Prozent gehören 30 Jahre und länger einer Gemeinde an. Ein Drittel der Juden, die nicht mehr Mitglieder einer Gemeinde sind, findet die Institution dennoch außerordentlich wichtig. Die Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde ist in der Regel eine Lebensentscheidung, hält das Barometer fest.
55 Prozent der Mitglieder sehen es als selbstverständlich an, dass man als Jude Mitglied sein muss.
55 Prozent der Mitglieder sehen es als selbstverständlich an, dass man als Jude Mitglied sein muss. Von ihnen sind 38 Prozent über die Eltern Mitglied geworden. Unter denen, die nicht mehr Mitglied sind, hatten sogar 54 Prozent einst über die Eltern ihre Mitgliedschaft erworben.
Werte Religion, Geschichte, Kultur, die persönliche Familiengeschichte und universelle jüdische Werte sind unter Mitgliedern und denen, die früher einmal einer Gemeinde angehörten, besonders wichtig. 83 Prozent der Nicht-mehr-Mitglieder befinden, dass diese Themen auch für sie einen hohen Stellenwert in ihrem Leben haben. Ihnen gefällt das Angebot der Gemeinden, sie bewerten die Möglichkeit, hier ihren Glauben leben zu können, Freizeit zu verbringen und mehr über das Judentum zu lernen, als besonders hoch.
Für Mitglieder und Ehemalige steht an erster Stelle, den Glauben zu leben. Der zweitwichtigste Grund für die Mitgliedschaft sind die Kultur- und Freizeitangebote der Gemeinde – 57 Prozent nennen dies als Motivation, der Gemeinde anzugehören. Für 41 Prozent der Befragten ist der Wissenserwerb über das Judentum wichtig, und fast ebenso viele möchten sich mit Gleichgesinnten politisch engagieren, zum Beispiel gegen Antisemitismus, für Israel oder im interreligiösen Dialog.
Transparenz Knapp zwei Dritteln der Gemeindemitglieder – so ergab die Umfrage – sind die Entscheidungsprozesse der Gemeinden zwar bekannt. Selbst Einfluss auf die politischen Entscheidungen ausüben zu können, glaubten jedoch nur 14 Prozent von ihnen, stellt die Erhebung fest.
Ein Zeichen für Schuster, »dass wir in den Gemeinden unsere Entscheidungen vor allem transparenter machen müssen«. Man werde es nie schaffen, die Meinung aller einzuholen, »doch mehr Kommunikation wäre sicherlich oft schon ausreichend, um die Mitglieder mitzunehmen«, sagt der Zentralratspräsident. Er wünsche sich aber auch umgekehrt, dass sich vor allem die Unzufriedenen mehr einbringen.
»Insbesondere die Vorstandsarbeit war häufig Gegenstand der Kritik«, heißt es weiter im zusammenfassenden Bericht des Gemeindebarometers. So äußern 15 Prozent der Befragten in ihren Angaben die persönliche Ansicht, dass der Vorstand zu wenig Interesse an den Anliegen der einfachen Mitglieder zeige, und zehn Prozent der Befragten beklagen, er sich zu stark auf eigene Zielsetzungen konzentriere.
Weitere Kritik betrifft vor allem die Themen Atmosphäre, Offenheit, Willkommenskultur, kulturelle Unterschiede zwischen russisch- und deutschsprachigen Mitgliedern, religiöse Ausrichtung des Individuums und der Gemeinde, Schwerpunkte in Religion versus Kultur. »Dieses Feedback ist wichtig für uns«, kommentiert Schuster. Manchmal schlichen sich über die Jahre Gewohnheiten ein, die einem nicht mehr bewusst seien, etwa das Aufnahmeverfahren oder der Umgang mit neuen Mitgliedern.
»An den halachischen Religionsgesetzen kommen wir nicht vorbei.«
Zentralratspräsident Josef Schuster
Selbstkritisch zeichnet das Barometer vor, wie Mitglieder gewonnen werden könnten: Mit mehr Veranstaltungen für säkulare Juden, mehr Kulturveranstaltungen, Möglichkeiten zum beruflichen Networking, Offenheit gegenüber anderen jüdischen Strömungen, einer freundlicheren Willkommenskultur, Raum zur Eigeninitiative, mehr Bildungsangeboten für Kinder und Offenheit gegenüber nichtjüdischen Familienangehörigen könnten neue Mitglieder gewonnen werden. »Wenn wir hier in den Gemeinden wieder sensibler werden und unsere Prozesse überprüfen, ist das auf jeden Fall ein Gewinn«, so Schuster.
Giur Nach wie vor schwierig ist es für Menschen mit einem jüdischen Vater und einer nichtjüdischen Mutter, die Mitglieder in einer Gemeinde werden wollen oder sich wünschen, dass ihnen der Zugang zum Giur erleichtert würde. »An den halachischen Religionsgesetzen kommen wir nicht vorbei«, sagt Schuster, es gebe »keine einfachen Lösungen. Aber wir werden weiterhin das Gespräch mit den Rabbinerkonferenzen suchen, um zu sehen, welche Angebote man auch diesen Menschen machen kann«.
In den nächsten Monaten möchte der Zentralrat auf die im Gemeindebarometer erkannten Probleme Antworten finden. Dazu wolle man 2021 ein »Gemeindecoaching« abhalten. »Das beinhaltet eine Bestandsaufnahme vor Ort, und dann wollen wir gemeinsam mit den Gemeinden Entwicklungen für die Zukunft planen«, regt Schuster an. »Das wird ein längerer Prozess. Aber dieser Aufwand lohnt sich.«
www.gemeindebarometer.de