Besondere Ereignisse benötigen einen Festakt. Und auch, wenn der zu frühe Tod von Gemeinde-Vorstandsmitglied Harry Schnabel sel. A. die Gemeindemitglieder in Schock und Trauer hielt, kamen viele von ihnen zur Höhepunktveranstaltung anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der Wiederbegründung der Gemeinde.
Begonnen hatten diese Feierlichkeiten bereits im Juni mit dem »One Schabbat«, einem Dinner ganz in Weiß auf dem Vorplatz des Palmengartens. Am 10. September hatte dann ein lockeres Fest für alle Frankfurter – ob Gemeindemitglied oder nicht – im Gemeindezentrum unter dem Motto »Hereinspaziert!« stattgefunden. Das gemeinsame Feiern und das Zelebrieren lebendigen jüdischen Lebens stehen im Mittelpunkt des Jubiläums.
ehrengäste Im Foyer des hr-Sendesaals konnten die etwa 800 festlich gekleideten Gäste zusammenkommen, koscheren Wein genießen und die Ankunft der Ehrengäste Nancy Faeser (Bundesinnenministerin), Boris Rhein (Hessischer Ministerpräsident), Mike Josef (Frankfurter Oberbürgermeister) sowie Josef Schuster (Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland) beobachten.
Gegen 19 Uhr begann das Programm des festlichen Abends mit der Ouvertüre: Das hr-Sinfonieorchester unter der Leitung des Dirigenten Jonathan Stockhammer spielte eine Suite von Mikhail Gnessin für das Bühnenstück Der Revisor. Die Musik scheint in eine fantastische Welt zu entführen. Es ist ein vielseitiges Stück, was in dieser Art auch »symbolisch für die Diversität der jüdischen Identitäten innerhalb der Frankfurter Gemeinde« stehen kann.
Hörbare Freude gab es, als der frühere Gemeindekantor Helfgot die Bühne betrat.
Der Saal füllte sich mit sichtbarer und hörbarer Freude, als Yitzchak Meir Helfgot den Raum betrat und sich lächelnd vor dem Orchester platzierte. Der mittlerweile weltberühmte Kantor war zwischen 1994 und 2001 Kantor der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt gewesen und somit auch ein Teil der gefeierten Geschichte. Im Publikum erblickte er einige altbekannte Gesichter, bevor er eine atemberaubende Darbietung des Liedes »Ad Heina« intonierte. Die kraftvolle Stimme des Kantors hob sich mit scheinbarer Leichtigkeit gegen die zahlreichen Streicher und Blasinstrumente ab.
LÜCKE Still wurde es, als Salomon Korn ans Mikrofon trat. Der Vorsitzende des Vorstands der Frankfurter Gemeinde gab seinen gemischten Emotionen Raum. Statt die Rede wie geplant zu beginnen, sprach er zunächst von Harry Schnabel sel. A.: »Heute kann ich weder von einer unbeschwerten Feier noch von wirklicher Freude sprechen, vielmehr wagt es mein Blick nicht, von dem leeren Sitz in der ersten Reihe zu weichen.« Schnabels Tod hinterlasse eine große Lücke.
Mit sorgsam gewählten Worten erzählte Korn daraufhin von der Geschichte der Gemeinde – von wenigen Hundert Menschen nach dem Krieg bis hin zum heutigen Tag. »Ich habe mich gefragt, warum wir gerade 75 Jahre so besonders feiern«, führte Korn aus. Weiter sagte er: »Weil ich der Meinung bin, dass jedes Jahr, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Menschheitsverbrechen der Schoa, die Jüdische Gemeinde Frankfurt besteht, etwas Besonderes und ein Grund zum Feiern ist.«
Dem Vorstandsvorsitzenden ging es in seiner Rede vor allem darum, dass die Jüdische Gemeinde in Frankfurt fest verwurzelt sei, ein blühendes, diverses und stolzes jüdisches Leben geschaffen habe und dies weiterhin tue – trotz wachsendem Antisemitismus. Dabei bezog sich Korn auf die Notwendigkeit von Polizeischutz vor jüdischen Einrichtungen. In dem Zusammenhang rezitierte er abermals seinen berühmten Satz, den er bereits 1986 bei der Eröffnung des Gemeindezentrums gesagt hatte – jedoch diesmal mit der Betonung auf dem entscheidenden zweiten Teil: »Wer ein Haus baut, will bleiben, und wer bleiben will, erhofft sich Sicherheit!«
SICHERHEIT Auch Mike Josef (SPD), Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt am Main, stimmte Korn zu: »Jüdisches Leben ist selbstverständlich, aber sicheres jüdisches Leben ist nicht selbstverständlich.« Die Redner sind sich einig: Gemeinsam müsse man sich der politischen Rechten und dem Antisemitismus in all seinen Formen entgegenstellen. Nancy Faeser (SPD), Bundesministerin des Inneren und für Heimat, betonte dagegen vor allem die Rolle der Politik: »Der Imperativ des ›Nie wieder!‹ muss gelten, und zwar unverrückbar. Er gehört zu den Grundfesten dieser Republik.«
Sie versprach der Gemeinde, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Sicherheit für jüdisches Leben zu garantieren. Eines Tages sollte Polizeischutz nicht mehr nötig sein. Boris Rhein (CDU), hessischer Ministerpräsident, konzentrierte sich in seiner Rede zusätzlich auf die Verantwortung, die aus der deutschen Geschichte des Nationalsozialismus und der Schoa resultiere. Er kritisierte die Jahre der Verdrängung und Vertuschung und resümierte: »Im Land der Täter darf es kein Vergessen geben.«
Nancy Faeser versprach der Gemeinde, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Sicherheit für jüdisches Leben zu garantieren.
Auf die Reden folgte der musikalische Höhepunkt des Abends. Das Orchester führte das Publikum durch die Geschichte der Gemeinde von der Wiederbegründung bis in die Gegenwart. Die schmerzhaften Anfänge nach der Schoa, die nichtsdestotrotz von einem gewissen Optimismus begleitet waren, wurden beispielsweise durch das Stück Der Remembrances von John Williams interpretiert. Auch die Zuwanderung neuer Mitglieder aus der ehemaligen Sowjetunion in den 90er- und 2000er-Jahren wurde musikalisch gewürdigt mit Mieczysław Weinbergs Chamber Symphony No. 4.
Eine Besonderheit stellte das Werk dar, welches den Oktober 2019 und den damaligen Anschlag von Halle repräsentierte. Im Auftrag der Gemeinde hat der 1989 geborene Camilo Bornstein das Stück Mitkanes komponiert. Darin beschäftigt sich Bornstein vor allem mit dem Zusammenkommen der Menschen in der Synagoge in Halle unmittelbar nach dem Anschlag, aber auch mit dem Zusammenkommen »des jüdischen Kollektivs in Deutschland als Reaktion auf diesen Gewaltakt des Antisemitismus«.
GRATWANDERUNG Auch wenn der Abend länger dauerte als angekündigt, applaudierte das Publikum erfreut über die Rückkehr von Kantor Helfgot auf die Bühne, der auch zu später Stunde noch lächelte und mit einer emotionalen Darbietung von Velirushalayim Ircha beeindruckte.
Es war ein Abend, der eine Gratwanderung zwischen Trauer, Freude, Ernsthaftigkeit und Feierlichkeit war. Eines ist klar: Die Jüdische Gemeinde Frankfurt feiert dieses Jahr nicht nur die vergangenen 75 Jahre, sondern sie schaut auch zuversichtlich und selbstbewusst in eine Zukunft von diversem und stolzem jüdischen Leben in der Mainmetropole. Das Jubiläumsprogramm wird im Dezember mit einer Ausstellung zur Geschichte der Gemeinde fortgesetzt.