Religion

Ein bisschen Tradition

Ausnahme: In Gießen und anderswo nimmt die Zahl der Beschneidungen aufgrund der Demografie ab. Foto: Flash 90

Tradition ist, wenn Mutter das Haus sauber hält, Vater derweil die Bibel studiert und sich die Töchter auf ihr Hausfrauendasein vorbereiten. Das wissen wir alle spätestens, seitdem Shmuel Rodensky zum ersten Mal aus voller Lunge »Tradition!« schmetterte – seit 1968 also. Doch das Musical Anatevka spielt in der Ukraine des 19. Jahrhunderts, die Verhältnisse sind in der Buchvorlage Tewje, der Milchmann von Scholem Alejchem noch wohlgeordnet. Zumindest im Sinne der Traditionalisten.

Mittlerweile ist nichts, wie es einmal war. Die meisten ukrainischen Juden sind nach jahrzehntelanger kommunistischer Areligiosität ausgewandert, viele leben in Deutschland. Wie gehen sie mit den religiösen Traditionen um? Gibt es nach den ersten Jahrzehnten in Deutschland einen Boom der Jüdischkeit? »Nein«, sagt Esther Haß mit Vehemenz. »Die Zahl der Brit Milas, Bar- und Batmizwas und anderer traditioneller Feste hält sich auf niedrigstem Stand«, sagt das Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Kassel.

Zu den Gottesdiensten kämen viele nur deshalb, weil dieser stets mindestens mit einem Kiddusch, oft aber auch mit einer kleinen Feier verbunden sei. Ihre Hoffnung, das mal ändern zu können, gründet sich auf den Nachwuchs der Gemeinde. »Die Kinder lernen dank des Religionsunterrichts und der Feriencamps ihre jüdischen Wurzeln kennen«, sagt Haß. Darauf lasse sich aufbauen.

Zufallsprodukt So habe ihr beispielsweise im vergangenen Herbst ein Mädchen erzählt, dass sie während des Machanes ihren zwölften Geburtstag habe. »Ich habe ihr gesagt, dass sie dann ja eine Bat- mizwa ist, und letztlich haben wir diese dann mit der Gruppe und der Familie des Mädchens gefeiert«, erzählt das Vorstandsmitglied. Traditionspflege als Zufallsprodukt? »Ja. Aber immerhin ein Anfang«, sagt Haß. Bei den russischsprachigen Zuwanderern komme die Religion oft über die Kinder zu den Eltern.

Das ist auch in großen Gemeinden wie Frankfurt so. Auch wenn diese ein solideres religiöses Fundament hat als die kleineren Gemeinden in Hessen. Bei der orthodoxen Fraktion steht es natürlich außer Frage, ob eine Brit oder eine Namensgebung begangen wird. Aber auch säkulare Mütter und Väter lassen ihre Söhne meist beschneiden – wenn auch vielleicht nicht traditionell von einem Mohel, so doch noch in der Geburtsklinik oder vom Urologen.

Vom Kindergarten oder der Schule bringen die Kinder dann Lieder und Gebete mit nach Hause, die bei den Eltern nicht selten zu einer Rückbesinnung auf die Traditionen oder zu deren Entdeckung führt.

Wenn in Frankfurt gefeiert wird, geschieht dies in den vielen Facetten der unterschiedlichen Nationen, die in der Mainmetropole leben: Eine Brit Mila wird zu Hause, meist aber in der Gemeinde gefeiert, denn letzteres erspart den Eltern des Neugeborenen viel Arbeit.

Chuppa Bar- und Batmizwas sind der ideale Anlass für eine Mega-Party – viele Gemeindemitglieder feiern in Klubs oder einem der Frankfurter Hotels, die auch koscheres Essen anbieten. Für Hochzeiten reist das Brautpaar nicht selten nach Israel. Gemischt-religiöse Ehen werden im Standesamt besiegelt – der Tradition verhaftete Brautleuten, schmerzt freilich das Fehlen des Traubaldachins.

Einen »kleinen Ausweg« hat beispielsweise ein Paar gefunden, das das Standesamt bereits hinter sich hat und im Juli »richtig« heiraten wird: Die Trauzeremonie wird auf der grünen Wiese stattfinden, gemeinsam geleitet von einem Rabbiner und einem Pfarrer. Das mag nicht koscher sein, ist aber romantisch.

In kleineren Gemeinden wie Darmstadt »werden jedwede Feierlichkeiten meist in der Gemeinde ausgerichtet«, berichtet Geschäftsführer Daniel Neumann. »Es gab nur ein einziges Bar-Mizwa-Abendessen, das außerhalb stattfand«, sagt er. Es gehe in Darmstadt eben sehr familiär zu, zudem seien die entsprechenden Räumlichkeiten vorhanden.

Religionsunterricht Das koschere Catering könne ebenfalls in der Gemeinde, aber auch aus Frankfurt oder Offenbach geordert werden. Die Zahl der Feierlichkeiten bezeichnet Neumann als »konstant«. Etwa 70 Prozent der Gemeindekinder nehmen laut Neumann am Religionsunterricht teil, und die Eltern dieser Kinder achteten in der Regel auch darauf, die Traditionen zu wahren.

In Gießen hingegen gibt es selten traditionelle Beschneidungen oder Hochzeiten. Denn den Vorsitzenden Gabriel Nick treiben Nachwuchssorgen um: Der demografische Wandel ist in dieser Gemeinde schon vollzogen. 90 Prozent der Gemeindemitglieder sind »ältere Leute«, wie Nick konstatiert. Das älteste Gemeindemitglied zählt sage und schreibe 104 Jahre.

Lebensende Beim letzten Weg gewinnt das Judentum für viele wieder an Bedeutung: In Gießen lassen sich quasi alle Gemeindemitglieder auf dem jüdischen Friedhof beerdigen, zudem gibt es eine rege Nachfrage von auswärtigen Juden. Die Jüdische Gemeinde Frankfurt versucht derzeit, der Stadt zusätzliche Friedhofsflächen abzuringen und auch in Kassel geht es nach dem Lebensende traditionell zu: 95 Prozent der ortsansässigen Juden lassen sich laut Haß auf dem jüdischen Friedhof beerdigen.

Von der Wiege bis zur Bahre: Überall dort, so könnte man meinen, wo die Erhaltung jüdischer Traditionen ohne besonderen Aufwand der Hauptperson möglich ist oder sozial opportun erscheint, haben die religiösen Rituale treue Anhänger.

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