Es ist genau 18.22 Uhr am Dienstag voriger Woche, als ein Hubschrauber über dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau zu sehen ist. Nicht mehr lange, und die Bundeskanzlerin wird eintreffen. Die Anspannung lässt nach, Neugierde und Erwartung wachsen. Dann kommt Angela Merkel in Begleitung von Kultusminister Ludwig Spaenle zum einstigen Appellplatz, wo die Schoa-Überlebenden und Zeitzeugen bereits ihre Plätze eingenommen haben.
Spaenle begrüßt nun offiziell die Bundeskanzlerin an diesem historischen Ort. »Es fällt bis heute schwer, Worte zu finden für das, was geschehen ist, für diesen Zivilisationsbruch«, sagt der Minister. »Diese Sprachlosigkeit aber dürfen wir nicht hinnehmen! Wir alle dürfen nicht vergessen!« Der erste Besuch eines amtierenden deutschen Regierungschefs in der KZ-Gedenkstätte setze Zeichen, ist Spaenle überzeugt: »Sie tun heute einen historischen Schritt. Das ›Nie wieder!‹ ist der Auftrag aus der Vergangenheit für die Zukunft.«
Dass es zur Umsetzung dieses Auftrags der Unterstützung jedes Einzelnen bedürfe, unterstreicht der Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, Karl Freller. Der Besuch der Bundeskanzlerin sei ein Signal gegen alle Feinde der Demokratie.
Grauen Angela Merkel wendet sich in ihrer nachdenklichen Rede mehrmals direkt an die Überlebenden, die zum Teil von weit her angereist sind: »Sie haben das Grauen selbst erleben müssen. Für Sie waren Entrechtung und Erniedrigung einst bitterer Alltag. Für mich ist es ein sehr besonderer und bewegender Moment, mit Zeitzeugen und Opfern hier zusammenzukommen.« Anschließend begrüßt Merkel die Schoa-Überlebenden und unterhält sich mit ihnen. Max Mannheimer, Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau, überreicht ihr sein erstes sowie sein jüngstes Buch.
Dann legt die Kanzlerin im Gedenken an die Opfer einen Kranz nieder und besichtigt die Gedenkstätte. Dass es Angela Merkel bei ihrem Besuch neben den Gesprächen mit den Überlebenden auch um die Würdigung der Opfer des NS-Regimes insgesamt geht, macht der weitere Verlauf ihres Besuchs deutlich. Dieser dauert länger als ursprünglich vom Protokoll vorgesehen.
Angela Merkel hört den Zeitzeugen aufmerksam zu. Dadurch bekommen manche Objekte in der Gedenkstätte eine ganz andere Dimension. So erzählt ihr Karl Rom, wie Max Mannheimer Mitglied der IKG, dass auch er einmal an einem Prügelbock, wie Merkel ihn gerade gesehen hat, ausgepeitscht wurde. Roms »Vergehen«: Er hatte sich im Winter Teile eines Zementsacks um die Beine gewickelt. Mit 15 Hieben sei er damals vergleichsweise gering bestraft worden, berichtet Rom.
Die Bundeskanzlerin sagt wenig, ist sichtlich betroffen. Dachau hatte sie bereits im Jahr 1992 als Familienministerin besucht. Das hat sie vorab im kleineren Kreis erwähnt. Der Kanzlerin ist also durchaus bewusst, wovon sie spricht, als sie bekennt, dass Dachau sie »mit tiefer Trauer und zugleich mit tiefer Scham« erfülle.
Haltung Für Präsidentin Charlotte Knobloch ist der Besuch von Angela Merkel denn auch ein Beleg für deren vorbildliches Geschichts- und Verantwortungsbewusstsein. »Das zeichnet sie als Bundeskanzlerin aus, es prägt ihr Denken und Handeln als Persönlichkeit mit hervorragender menschlicher Haltung«, befindet Knobloch. »Gerade weil die jüdische Gemeinschaft darunter leidet, dass offener Antisemitismus wieder zum Alltag gehört, ist es wichtig, dass die Kanzlerin für kluge Erinnerungskultur steht, die auch ich mir wünsche.«
Angela Merkel wirbt für diese Einstellung schon lange, unterstreicht auch Max Mannheimer. Er erinnert an Merkels Besuch im Jahr 1995 anlässlich des 50. Jahrestages der Befreiung des KZ Buchenwald. Die Kanzlerin habe die gleichen Ziele wie die Überlebenden, bekräftigt Mannheimer: den entschiedenen Einsatz gegen Rassismus, Antisemitismus und Intoleranz.
Nach dem Eintrag ins Gästebuch und der Entgegennahme des Totenbuchs, das ihr Gedenkstättenleiter Freller überreicht, weicht die Bundeskanzlerin von der vorgegebenen Route Richtung Ausgang ab. Sie geht auf die jungen Menschen zu, die ihr zuvor bei der Kranzniederlegung assistiert hatten, darunter Freiwillige, die ihr Soziales Jahr in der Gedenkstätte leisten. Bei ihnen steht Nina, eine der Enkelinnen von Max Mannheimer. Merkel fragt sie nach ihrem Beweggrund für ihr Engagement – und hört dann ebenso aufmerksam wie interessiert zu.